Coronavirus, Depression und Erinnerungen
Aus: Anna Butan, Noras kleines Corona-Alphabet
Nora leidet an Demenz und beschliesst, ihre Gegenwart einzufangen, und zwar alphabetisch: Sie schreibt ein Corona-Alphabet. – Mein Roman entstand aus täglichen Gesprächen mit meiner 90-jährigen Schwiegermutter. Sie hat Krebs und Angst, ihr Gedächtnis zu verlieren. Die Pandemie könnte die letzte Erinnerung sein, die sie haben wird.
Coronavirus
Das Virus mit dem komischen Namen zieht durch die Welt und unterteilt die Menschheit in zwei Gruppen: diejenigen, die in Panik verfallen, und diejenigen, die eine irrsinnige Sorglosigkeit an den Tag legen. Beide sind tief in ihren Seelen verletzt. Wie ist es möglich, dass das Virus vor allem die Alten befällt und dass das einzige Gegenmittel darin besteht, diese zu isolieren, vom normalen Leben zu trennen und in Gefangenschaft zu nehmen? In Noras Haus leben drei Generationen zusammen und es ist unmöglich, sich physisch komplett voneinander zu isolieren.
Allerdings verbringt Nora sowieso die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer. Das Coronavirus bringt ihren Sohn Philip dazu, sie Tag und Nacht besorgt anzuschauen. Als ob sie nicht ohnehin neunzig Jahre alt wäre. Was sonst könnte eine Frau, die Krebs hat, bedrohen? Aber Philip macht sich Sorgen, weil die Medien und die PolitikerInnen ihm sagen, dass er dies tun sollte. Und obschon er selbst Journalist ist, kann er der Falle der vorgefertigten Meinung nicht entkommen. Es ist schwierig, nicht in Panik zu verfallen, wenn die ganze Welt von Angst erschüttert ist.
Depression
Ihr Sohn, ihre NachbarInnen und diese falschen Gesichter im Fernsehen, sie alle haben etwas gemeinsam: Ihr aufgesetztes Lächeln zeugt von schlechter Schauspielkunst. Und hinter ihrem Lächeln verstecken sich Tränen, Verzweiflung und Erschöpfung. Die Welt versinkt in einer lächelnden Depression. Es ist eine heftige Krankheit, die sich schneller ausbreitet als das Coronavirus. Ein Gefühl der Leere. Das Fehlen von etwas, Unbehagen.
Nora denkt an die Zeit, in der die einzige Sorge ihrer Eltern darin bestand, ihre Familie zu ernähren. Und wenn ihre Mutter etwas auf den Tisch zaubern konnte, war dies schon eine grosse Freude. Es war eine Freude, wenn sie überhaupt zusammen an einem Tisch sitzen konnten. Sie litten nicht unter Depressionen. Es gab keine Zeit dafür. Aber seither ist der menschliche Egoismus gewachsen. Er hat sich ausgedehnt, ist stärker und tiefgreifender geworden. Ja, es gibt ein neues Virus. Das Virus der Leere, der Unvollkommenheit, des Mangels an Ganzheit. Die Leere, die aus dem Besitz von zu vielem entsteht. Wie ist es möglich, diese Leere zu füllen?
Nora hat gelernt, ihre eigene Depression zu lieben, weil es ein andersartiger Zustand ist. Durch ihn verfällt sie in eine tiefe Ruhe. Und je deprimierter sie ist, umso mehr kommt sie zur Ruhe. In einen Standby-Modus. In eine Bewahrung ihrer Seele. Sie ist in Frieden, obschon es ein trauriger Frieden ist. Tief in ihrem Innern weiss sie, dass dieser Zustand nur eine Phase ist, ein Vorgeschmack von etwas: einer plötzlichen Erinnerung oder einer unerwarteten Offenbarung.
Erinnerungen
Wenn die Erinnerungen an ihr Leben nur zu ihr zurückkommen könnten! Nora sitzt auf ihrem Bett und starrt stundenlang auf die gleiche Stelle an der Wand, als ob sie diese in Hypnose versetzen möchte. Was ist es, das sie durch ihr Starren auf diese kahle, weisse Oberfläche so hartnäckig festzuhalten versucht? Gähnend weisse Wände, so unbeschrieben wie ein weisses Blatt Papier, genau hier, direkt vor ihrer Nase. Tag und Nacht starren sie diese Wände an und fordern sie dazu auf, jene jungfräuliche Leere mit Inhalt zu füllen. Wenn sie ihr Leben nur noch einmal neu schreiben könnte, ganz von Anfang an! Wie würde es aussehen? Aber um Teile neu zu erfinden, müsste sie sich zumindest an diese erinnern. Jeden Tag unternimmt Nora mit aller Kraft erneut einen Versuch: Stundenlang sitzt sie da und wippt ihren Körper langsam hin und her, in verschiedene Richtungen, als ob sie diesen schweren Klotz, der auf ihrem Verstand lastet, dadurch ins Rollen bringen möchte. Sie versucht ihn in Gang zu bringen, indem sie das Tempo ihrer Bewegungen verändert, aber die Erinnerungen kommen dadurch nicht schneller zurück.
Von der Seite her sieht es aus, als ob sie sich in einer Art Trance befände, als ob sie beten oder Mantras aufsagen würde, oder kurz davor stünde ihren Verstand zu verlieren. Aber wen kümmert es, wenn sie sich bereits auf der Türschwelle zur Unendlichkeit befindet? Nora bleibt nur noch eins: der Versuch, sich an ihr Leben zu erinnern und herauszufinden, ob es bedeutungsvoll war; ob es nicht umsonst war.
Ihr Sohn Philip sieht entsetzt aus. Es gelingt ihm nicht, sein Mitleid zu verstecken. Wie kann ihm Nora erklären, dass sie sich zutiefst bemüht, diesem endlosen und allgegenwärtigen Moment, dem Jetzt, zu entkommen, diesem Totalitarismus des gegenwärtigen Momentes, der eine Ewigkeit zu dauern scheint? Es gibt keine Zukunft, das weiss sie. Die Zukunft birgt nur Dunkelheit, die sie eines Tages mitsamt diesem Klotz von einem Tumor in ihrem Kopf verschlingen wird. Aber das ist es nicht, wovor sie sich am meisten fürchtet. Was ihr am meisten Angst macht, ist die Tatsache, dass es auch keine Vergangenheit gibt. Nichts, an dem sie sich festhalten, woran sie sich mit einem Lächeln erinnern könnte, das sie bedauern oder worauf sie stolz sein könnte. Noras Verstand besteht stur darauf, keine Fakten aus der Vergangenheit zu behalten.
Manchmal sieht sie nachts Gesichter, hört Stimmen, erinnert sich an Kleinigkeiten. Sie erscheinen auf der Oberfläche ihres träumerischen Bewusstseins ohne jede Erklärung. Aber wenn sie aufwacht, kann sie sich die Bedeutung dieser Bilder nicht erklären. Nora fühlt sich wie ein Kind, das einer fremden Sprache zum ersten Mal lauscht und darin keinen Sinn erkennt. Es ist wunderschön und bedeutungslos.
Ihre einzige Hoffnung ist ein altes schwarz-weisses Fotoalbum. Ihr Enkel Lukas bat sie einmal, ihr mehr über die Bilder zu erzählen. Nora war es peinlich, dass ihr dies nicht gelang. Die Fotos zeigten Aufnahmen von Städten, lächelnden Gesichtern, einem See und einem Tannenwald, einigen Kindern ... Aber sie konnte nicht sagen, wer dort abgebildet war. Nora musste etwas erfinden und schämte sich dafür. Sie erzählte Lukas eine wunderbare Geschichte einer grossen Familie, die um die Welt reiste, Menschen kennenlernte und weiser und schöner wurde.
Glücklicherweise war ihr Enkel zu klein und naiv, um ihre Geschichte anzuzweifeln. Es tat ihr weh, ihre Erinnerungen in Zeit und Raum eingefroren zu sehen. Sie war unfähig, diese zu entziffern, unfähig zu benennen, wer sie da anlächelte oder wo sich dieser wunderschöne, mit Tannen umgebene Ort befindet. Nora konnte sich selbst kaum auf der Aufnahme wiedererkennen, der Kontrast zwischen ihrem gegenwärtigen Körper und diesem Bild aus der Vergangenheit war schockierend. In Wirklichkeit war es ihr Sohn, Philip, der sie rettete, indem er auf eine der wunderschönen Damen, die neben dem Pianisten sassen, zeigte und sagte:
- Du sahst in dem Kleid so schön aus, Mami! Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in diesen Stöckelschuhen auf dem Tisch tanzen konntest! Ich frage mich, ob es Papi nichts ausgemacht hat.
Sie konnte ihm diese Frage nicht beantworten, da sie sich nicht daran erinnerte. Sie hat auf dem Tisch getanzt? Wirklich? In diesen Stöckelschuhen? Wenn sie zwanzig oder dreissig Jahre jünger wäre, dann würde sie sich vielleicht schämen. Aber jetzt, da ihr Leben dem Ende zuging, fand sie diese Tatsache amüsant. Warum hatte sie auf einem Tisch getanzt? War sie betrunken gewesen? Hatte sie etwas zu feiern gehabt? Wo war ihr Mann in diesem Moment gewesen und wie hatte er darauf reagiert? Hatte er mit ihr zusammen gefeiert? Hatte er sie verurteilt? Hatte er sie danach betrunken mit nach Hause genommen? Oder war sie eine professionelle Tänzerin gewesen? Aber nichts, absolut nichts bei ihr zu Hause deutete darauf hin, dass sie eine Tänzerin gewesen war. Allerdings stand dort ein Klavier.
Wer spielte darauf? Ihr Sohn war es nicht, auch nicht ihr Enkel. Wer dann?
Nora wünscht sich nichts mehr, als den Deckel des Klaviers hochzuheben und diese weissen und schwarzen Tasten anzufassen. Aber der Deckel ist zu schwer für ihre dünnen, zitternden Finger und es ist ihr peinlich, jemanden zu bitten, es für sie zu tun. Niemand sollte wissen, wie schwer es ihr fällt. Niemand sollte wissen, dass sie Probleme hat, sich zu erinnern.
Die Erleuchtung kam aus dem Nichts: Nadja, Philips Freundin kam einmal auf das alte Klavier zu, öffnete den schweren, schwarzen Deckel und begann, die schwarzen und weissen Tasten zu drücken. Nadja ist Klavierlehrerin im Konservatorium, aber ihre wahre Leidenschaft ist der Jazz. Miles Davies, John Coltrane, Charlie Parker…, oft hatte Nora ihren Sohn diese magischen Namen erwähnen gehört. Trotz Corona kam Nadja regelmässig zu ihnen, angeblich, um den kleinen Lukas zu unterrichten. Aber alle wussten, dass dies nur eine Ausrede war. Lukas hatte kein Interesse daran, Klavierspielen zu lernen. Der wahre Grund war Philip. Die zwei lebten noch nicht zusammen. Wenn sie nicht da wäre, würden Nadja, ihr Sohn und ihr Enkel eine Familie gründen, aber sie, Nora, war ein Hindernis. Sie war eine Last und sie wusste es. Ihr gutherziger Sohn, ihr erstes Kind, ihr geliebter Philip weigerte sich, seine alte Mutter in einem grossen, kalten Haus allein zu lassen. Er zog ein und Nadja musste es akzeptieren. Aus einem unerklärlichen Grund hatte es die junge Frau nicht eilig, es ihrem Geliebten nachzumachen und ebenfalls einzuziehen. Tat sie dies aus Respekt? Nora hat darauf keine Antwort. Alle fühlten sich mit der Situation wohl und Nadja ging ein und aus.
An einem Tag war Nadja besonders still. Nora konnte an der allgemeinen Stimmung und Bitterkeit in der Luft erkennen, dass Philip und seine Geliebte eine Auseinandersetzung gehabt hatten. Bei ihnen war dies nie eine emotionale Angelegenheit, sie schrien sich nicht an, stritten sich nicht und machten keine Anschuldigungen. Nein, es war immer eine stillschweigende, schmerzhafte Konfrontation. Und deswegen war die Stimmung jetzt ruhig und sehr unangenehm. Als ob sie diese kalte Wand der Stille durchbrechen wollte, sass Nadja am Klavier, öffnete den schweren Deckel und begann, zu spielen. Zuerst improvisierte sie, dann begann sie bekannte Melodien zu spielen. Und plötzlich... erkannte Nora die Klänge wieder. Sie waren ihr so vertraut, dass ihr ein kalter Schauer durch den Körper fuhr, ähnlich einem elektrischen Schlag. In dem Moment fiel es ihr schwer, sich auf den Füssen zu halten. Zum Glück konnte sie sich am Tischrand festhalten. Jeder Klang brachte ihr grosse Einsicht.
Plötzlich wusste Nora, dass es John Coltrane war und sie wusste, dass die Melodie etwas mit ihrem Mann zu tun hatte. Wie war sein Name? Leon. Leo. Ihr Löwe, der schon vor langem verstorben war. Leon hatte diese Melodie so oft gespielt. Er ist Musiker gewesen. Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Genau in dem Moment begann Nora zu fühlen, dass der schwere Klotz in ihrem Kopf anfing, sich zu bewegen. Es gab wieder Platz in ihrem Verstand. Einige Erinnerungen kamen zurück. Sie musste nur deren Sinn erschliessen.
Vor Aufregung zitternd ging Nora auf Nadja zu und bat sie darum, das Stück von Coltrane noch einmal zu spielen. «My favorite things?», fragte die junge Frau. – «Natürlich!» – «My favorite things!» Dies war das Stück, welches Nora und Leon zusammenbrachte und gleichzeitig jenes, das ihr Mann am besten spielte. Bei jedem Auftritt, auf jeder Tournee spielte er immer «My favorite things» zum Abschluss. Und es war John Coltrane, der lief, als Nora sich zum letzten Mal von ihrem geliebten Leon verabschiedete und dann den Sarg für immer schloss.
Je länger Nadja spielte, umso schwerer fiel es ihr, die Tränen zurückzuhalten. Und schliesslich verfiel sie in ein Schluchzen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal geweint hatte, aber die Tränen waren sehr befreiend. Sie bargen eine insgeheime Freude. In dem Moment stürmte Philip in den Raum und begann, mit Nadja zu streiten. Sie könne dieses Lied nicht spielen. Könne sie denn nicht sehen, dass es seiner alten Mutter Leid verursache? Der Arme, konnte er denn nicht sehen, dass es sich um Freudentränen handelte? Tränen der Erleichterung! Nora erinnerte sich plötzlich an so vieles und konnte sich einfach nicht mehr beherrschen.
Später am Abend hörte Nora, wie Nadja und ihr Sohn sich wieder versöhnten. Sie flüsterten, um den kleinen Lukas nicht aufzuwecken, aber Nora konnte einige Gesprächsfetzen und Sätze aufschnappen. «Weisst du denn nicht, dass Mami dieses Lied gesungen hat, als sie Papi zum ersten Mal begegnet ist? Es war ein Vorsingen in einer Band und sie bestand. Seither war es ihr Lied. Weisst du, wirklich ihres!»
Sie war eine Sängerin? Unglaublich! Sie: Nora! Die Sängerin, die mit einer Jazz-Band herumreiste, in der ihr Mann Leon Klavier spielte. Ist das nicht unglaublich? An diesem Abend konnte Nora nicht einschlafen. Es ist ihr schon oft passiert, dass sie Tag und Nacht nicht mehr auseinanderhalten konnte. Sie konnte in der Nacht kaum ihre Augen schliessen und schlief manchmal stundenlang tagsüber. Aber diesmal fühlte es sich anders an. Sie war so wach wie noch nie. Es war ein grosser Erfolg: Sie konnte sich erinnern! Sie erinnerte sich nicht an alles, aber an die wichtigsten Aspekte ihres Lebens: daran wer sie war, was sie gemacht hatte und warum ein Klavier in ihrem Zimmer stand.
Am nächsten Morgen versuchte Nora zu singen. Es war unmöglich. Ihre Stimme klang grässlich. Sie klang wie der Schrei eines verwundeten Tieres. Das jagte ihr einen Mordsschreck ein. Nein, sie würde nicht mehr singen können. Sie hat ausgesungen. Alles, was übrigblieb, war Stille. Jetzt, da Leon nicht mehr da war, weigerte sich ihre Stimme zu funktionieren. Ohne ihn machte das Singen keinen Sinn. Wenigstens wusste Nora, dass ihr Leben von Musik durchdrungen gewesen war. Viel Musik. Und wenn ihr Leben von Musik genährt worden war, bedeutet dies, dass ihr Leben von Schönheit durchdrungen gewesen sein musste.
An dem Tag lächelte Nora zum ersten Mal. Einmal mehr nahm sie das Fotoalbum hervor, schlug es auf der Seite mit ihrem Lieblingsfoto auf, das einen Pianisten zeigte, streichelte sein schwarz-weisses Gesicht mit ihrem Finger und lächelte. Sie lächelte immer wieder. Sie konnte einfach nicht damit aufhören.
Noras Familie hatte sich schon so daran gewöhnt, sie verloren und in Gedanken versunken zu sehen, dass die erste Reaktion auf ihr Lächeln Angst war. «Ist alles in Ordnung, Mami? Wieso lächelst du?», Philip sah besorgt und erstaunt aus. Wieso konnte sie nicht lächeln? Wegen ihres Alters? Wegen Corona? Oder weil es niemand von ihr erwartete? Sie antwortete nicht und lächelte einfach weiter.