Hirnmetastasen sind weg

Aus: Michèle Bowley, Volle Pulle leben. Lebe Deins – Jetzt

Dr. Cescato ist selbst überrascht, als sie das Resultat in ihrem Computerbildschirm betrachtet. «Es sind keine Metastasen mehr zu erkennen!», meint sie freudestrahlend.

Ich bin baff. Welch freudige Überraschung! Ich habe nochmals Zeit geschenkt bekommen. Nochmals Zeit, um zu wirken, um mit meiner Botschaft «Lebe Deins – Jetzt» an die Öffentlichkeit zu gehen, um den Menschen Mut zu machen, über die eigene Endlichkeit und das Sterben nachzudenken und darüber zu reden. Ich hatte eben noch ein solches Tempo drauf. Alle Menschen, die mit mir zu tun haben, müssen Vollgas geben. Ich dränge um zeitnahe Termine. Nun habe ich nochmals Zeit geschenkt bekommen, um den Faden wieder aufzunehmen.

Ich habe die Gelegenheit weiterzumachen mit meinem Werk, welches ich als meine Aufgabe hier auf Erden erkannt habe. Ich möchte das Tabu Sterben brechen. Für mich waren die vielen Stellen, in denen ich zuständig dafür war, dass die Menschen gut für sich sorgen ein guter Lernplatz. Bei jeder Stelle war ich auch für Öffentlichkeits- und Medienarbeit zuständig. Ich bin es gewohnt, öffentliche Vorträge zu halten und konzipiere und pflege zielgruppenspezifische Webseiten. Alles Fertigkeiten, die ich jetzt für diese Aufgabe gut nutzen kann.

Ich bin selbst überrascht, dass ich mich so sehr über diese Offenbarung freue. Habe ich mich doch mit der Aussicht, bald zu sterben, angefreundet und war sogar neugierig auf diesen letzten Übergang. Trotzdem, mein Herz jubiliert und ich möchte es in die Welt schreien, dass ich nochmals eine Chance erhalten habe. Eine Chance, das noch zu lernen, was ich noch nicht gelernt habe. Eine Chance, mich noch mit weiteren Menschen zu versöhnen. Ich kann noch viele Menschen dazu inspirieren und ihnen aufzuzeigen, wie sie genau das tun können, was ihnen entspricht.  

Die Nacht nach der Diagnose Metastasen-frei

Ich verstehe es nicht! Ich verstehe es einfach nicht! Wohlig schmiege ich mich nochmals in die Achselhöhle meines Liebsten. Er fühlt sich warm und weich an. Ein kurzer Kuss und nochmals auf die andere Seite gedreht.

Ja, ich habe eine Theorie, weshalb diese Metastasen plötzlich fast verschwunden sind. Ich spreche bewusst von diesen Metastasen, obwohl ich manchmal «meine Metastasen» sagen möchte. Es sind nicht meine Metastasen. Sie gehören mir nicht und ich will sie auch gar nicht haben. Ich habe sie nie bekämpft, doch meine Freunde sind sie auch nicht geworden. Vor allem die drei grossen, unten am Kleinhirn. Die haben mir schon einiges an Kummer bereitet.

Die Bilder vom gestrigen Tag kreisen noch in meinem Kopf. Rulli und ich sind mit dem Zug nach Bern ins Lindenhofspital gefahren. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich begleitet. Heute ist zufälligerweise auch das Filmteam Silvia Haselbeck und Erich Langjahr dabei. Silvia und Erich begleiten mich bei meiner letzten Lebensphase bis zum letzten Atemzug inklusive Bestattung. Sie dokumentieren immer wieder Sequenzen meines Lebens mit der Diagnose «unheilbar krank». Dass sie heute dabei sind, war schon von langer Hand geplant. Es braucht einige Abklärungen und Vereinbarungen, bis sie die Erlaubnis erhalten, bei einer Institution zu filmen. Heute haben wir Glück. Da sie zufälligerweise an diesem sagenumwobenen 16. März dabei sind, wird dieser Moment dereinst in ihrem Kinofilm «Die Tabubrecherin» zu sehen sein.

Die Bilder des Hirnscans bestätigen, was mir schon Dr. Cescato, leitende Ärztin medizinische Onkologie des Claraspitals in Basel, mitgeteilt hat. Es sind kaum noch weisse Flecken in meinem Hirn zu sehen. Ein paar winzig kleine und noch ein paar gräuliche Bereiche. Auf meine Nachfrage, ob vielleicht das Kontrastmittel nicht richtig gewirkt hat und das Ganze uns täusche, zeigt Dr. Notter, Facharzt Radio-Onkologie im Lindenhofspital, Bern, andere Bereiche meines Gehirns, die weiss sind, jedoch nicht auf einen Tumor oder Metastasen hinweisen. Dr. Notter meint trocken: «Es gibt nichts zu behandeln, liebe Frau Bowley. Die Metastasen sind weg. Sie sterben, wie wir alle, wir wissen nicht wie und wann. Gehen Sie nach Hause, leben Sie Ihr Leben so, wie bis jetzt. Denn Sie haben etwas richtig gemacht! Von Herzen alles Gute.»

Ich habe mich aufs Sterben eingestellt. Ich habe mich neugierig gefragt, wie das wohl geht und was nach meinem Tod wohl kommt. Mein inneres Bild vom Leben nach dem irdischen Tod hat mich mit Zuversicht erfüllt. Ich habe keine Angst, mich dieser letzten Aufgabe zu stellen: Mein Sterben. Ich habe mich sogar darauf gefreut. Mit meinem Leben habe ich abgeschlossen. Es war für mich in Ordnung «das Zeitliche zu segnen», «ins Gras zu beissen», «die Maiglöckchen von unten zu betrachten». Ich habe mich von meinen Liebsten verabschiedet. Ich habe mich versöhnt und mein Geld grosszügig an Freundinnen und Freunde verschenkt.

Und plötzlich erfahre ich, dass ich «noch» nicht sterbe. Meine Gefühle überwältigen mich. Mit der Diagnose Hirnmetastasen, unheilbar, konnte ich gut umgehen. Mehr als ein Jahr habe ich mich darauf vorbereitet, seit ich die Diagnose «Brustkrebs» im August 2020 erhielt. Doch plötzlich steht mir das Leben wieder volle Pulle offen. Mit allem Glück und allen Herausforderungen. Ich fühle mich überfordert. Soll ich mich jetzt freuen oder grämen? Ich brauche noch etwas Zeit.

Am nächsten Tag klingelt es an der Tür. Jemand streckt mir einen riesengrossen, bunten Blumenstrauss vor die Nase. «Florian!», rufe ich. Wir umarmen uns und lachen. Es ist klar, für alle anderen ist die Nachricht, dass ich doch nicht sterben werde, eine freudige Botschaft. Manche sprechen sogar von einem Wunder. Auch Florian freut sich unbändig. «Das müssen wir feiern!» Florian hat alkoholfreies Ginger-Bier und zwei edle Gläser mitgebracht. Normalerweise mag ich Bier nicht, aber dieses schmeckt sogar mir. Ein Prosit auf mein Leben 2.0!

Die Metastasen im Hirn sind plötzlich nicht mehr zu sehen. Also werde ich auch nicht wie vorgesehen sterben. Den letzten prognostizierten Termin habe ich bereits überlebt. Ich habe überall verkündet, dass ich spätestens Ende Februar 2022 sterben werde. Jetzt gilt es, länger zu leben. Nun muss ich wieder Geld verdienen. Florian ist ein guter Verkäufer und will mir dabei helfen. Das Geld, das ich ihm vor einer Weile zur Unterstützung des digitalen Erinnerungsraumes für Menschen am Lebensende und ihre Angehörigen gegeben habe, setzt er jetzt dafür ein, mich in meinen Aktivitäten in Social Media zu unterstützen. Mein Geld mit offenen Armen zu verteilen, findet ein jähes Ende.

 
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Basel – Moskau, Der Taubenmann & Die Jungen

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