Auf Irrwegen zum Halbbruder
Aus: Bodo Skrobucha, Das bin nun ich
Autofahrt nach Lüneburg mit Hindernissen
Wie man zu Beginn dieser Biografie lesen konnte, wurde ich ja als Einzelkind mit der Bestimmung «ZBV» (zur besonderen Verwendung) geboren. Über meinem Vater hörte ich von meiner Mutter nur Geschichten, deren Wahrheitsgehalt nur einseitig geprüft werden konnten, wenn überhaupt. Ursula, mit typischer weiblicher Neugier behaftet, bohrte immer wieder bei mir: «Willst du nicht mal wissen, wo dein Vater lebt, wer er war, und was er von dieser Verbindung zu sagen weiss?» Eigentlich hatte ich kein grosses Interesse, in dieser Geschichte neue Erkenntnisse zu gewinnen – getreu dem Grundsatz «Es ist halt so, wie es war und wie es ist!». Erst nach langem Fragen (auch Hinterfragen) war ich auch der Überzeugung, dass es wirklich sinnvoll wäre, auch von der anderen Seite etwas mehr in Erfahrung zu bringen. Also planten wir eine Reise nach Bardowick bei Lüneburg. Die Adresse konnten wir noch von meiner Mutter mit einer «Trick 15»-Frage in Erfahrung bringen. Ein Blick ins entsprechende Telefonbuch gab uns die Gewissheit, wir fanden die Adresse von einer Anna Ducho. Die Reise wurde von uns so geplant, dass wir nicht stur auf der Autobahn gen Norden «speeden» wollten. Nein, es sollte auf Deutschlands Bundesstrassen einigermassen gemütlich nach Lüneburg gehen. Die Reise führte über die Schwarzwaldhochstrasse durch den Odenwald und über den Spessart in den Nordwesten Deutschlands.
Dabei geschah etwas völlig Unerwartetes und beinahe Mystisches, so als ob es eine Bestimmung von ganz oben oder vom Schicksal wäre. Nach Kilometer langer Fahrt auf trockener Strasse geriet ich im Spessart auf eine vom Tau genässte und etwas glitschige Strasse. Ich warf einen Blick nach hinten auf einen nachfolgenden, sehr nahen Wagen, da verpasste ich für einen Bruchteil die Richtung der Strasse, die in eine scharfe Rechtskurve mündete. Ein Bremsmanöver erwies sich als fatal, die trockenen Pneus griffen auf der feuchten Strasse nicht und ich rutschte geradeaus weiter. Zum Glück sind in Deutschland viele kurvigen Strassen auch über Land mit Bordsteinen versehen. So knallte ich trotz stark reduzierter Geschwindigkeit mit den Vorderreifen gegen diese Bordsteine und rutschte wieder zurück auf meine Spur. Der mir folgende Wagen konnte zum Glück bremsen, so dass kein weiterer Schaden entstand. Wir sahen uns den Wagen an, und ein versuchtes Starten endete mit einem Krächzen. Was tun? Der andere Fahrer bot sich an, uns ins nächste Dorf abzuschleppen, wo er einen Gasthof und eine Garage kennen würde. […]
Am anderen Tag überraschte uns unser Ford-Garagist, dass er eine Möglichkeit habe, uns zu helfen. Auf einem Schrottplatz würde so ein Modell mit einem Heckschaden stehen, und da sei der Querlenker etc. noch in Ordnung. Wenn ich mitkommen könnte, würde er das Teil ausbauen. So langsam bekamen wir aber auch zeitliche Bedenken, denn ein mehrtägiger Aufenthalt hinter den sieben Bergen und bei den Geistern der Räuber vom Spessart war nicht eingeplant. Wir fanden die Abbruchhalde und den Wagen just in dem Augenblick, als es donnerte und blitzte. Die Demontage fand noch dazu unter einem Baum statt. Für mich ein wahrhaft «herrliches» Gefühl. Der Garagist demontierte, als ob nichts los sei, er kannte meine Furcht vor Gewittern ja nicht. Nun, es ging alles gut. Mein mittlerweile fast zum Freund gewordener Garagist montierte die Teile, die wundersamer Weise noch exakt passten. Nach einer Probefahrt gab er grünes Licht, allerdings mit dem Hinweis, nicht schneller als max. mit 100–110 km/h zu fahren, und mit der Auflage, den Wagen in Basel nochmals checken zu lassen. Als «Geschenk» für meine Heimatgarage nahm ich das kaputte Teil noch mit. Ach ja, da war ja noch eine Rechnung offen, die er mir aber noch nicht ausstellen konnte. Vertrauen gegen Vertrauen. Wir stellten ihm einen Blankoscheck aus und baten ihn, er möge seine Kosten darin vermerken. Welch Wunder: Als die Belastung kam, mussten wir feststellen, dass die Rechnung äusserst fair und moderat ausgefallen war.
Frau Ducho und neue Überraschungen
Mit der Freigabe des Wagens konnten wir also unsere Fahrt nach Lüneburg fortsetzen. Wie avisiert, fuhren wir in der vom Garagisten vorgeschlagenen maximalen Geschwindigkeit, mehr als 50 km/h war in den Ortschaften eh nicht möglich. Ohne weitere Probleme erreichten wir Lüneburg, fanden ein ideales Hotel und machten uns auf den Weg in das nicht allzu weit entfernte Bardowick. Auf der Fahrt dorthin spielten die Gedanken in meinem Kopf ver- rückt. Was sage ich dieser Frau? Was dem Mann? Will der mich überhaupt kennen? Habe ich das Recht, einfach so in eine bestehende und sicher auch funktionierende Gemeinschaft einzubrechen? Ursula und ich fanden die Adresse rasch und läuteten, einmal, zweimal. Es öffnete niemand. Also ein Zeichen dafür, dass die Übung abzubrechen sei. Zurück im Hotel hatte ich nach einer halben Stunde das Gefühl, als würde mir das Telefon sagen: «Nimm mich in die Hand und rufe an!» Gesagt, getan und: Schreck lass nach, es nahm jemand ab. Und jetzt, kluger Mann, was nun?
«Ducho, guten Tag, Sie wünschen?»
«Guten Tag Frau Ducho, mein Name ist Skrobucha. Ich hätte gerne Ihren Mann gesprochen, ist er da?»
«Das geht leider nicht, mein Mann ist verstorben. Um was geht es bitte?»
«Wir waren heute Nachmittag schon einmal bei Ihnen, aber Sie waren nicht da.»
«Ja, das stimmt, ich bin gerade erst aus den Ferien zurückgekommen.»
Jetzt half nichts anderes mehr. Ich musste die Karten auf den Tisch legen. Ich hatte aber zumindest die Sicherheit, in keine allzu grossen Fettnäpfchen zu treten. Und was noch erstaunlicher war, ohne den kleinen Unfall mit der Verspätung von drei Tagen hätten wir Frau Ducho überhaupt nicht getroffen. Es schien, als wäre dies wirklich eine göttliche Fügung gewesen. Eine Fügung, mit der ich endlich etwas über meinen Vater erfahren konnte.
«Frau Ducho, darf ich offen reden?»
«Ja, bitte!»
Jetzt half wohl alles Zögern nichts mehr. Wie heisst’s doch so schön: Vogel, friss oder stirb.
«Frau Ducho, es geht darum, dass Ihr Mann eigentlich mein leiblicher Vater ist (war). Ich würde mich gerne erkundigen, was er – in diesem Fall – für ein Mensch war. Von meiner Mutter höre ich nur widersprüchliche Dinge, die ich nicht unbedingt glauben kann und will. Ausserdem will ich festhalten, dass ich bereits 40 Jahre alt bin und daher keinerlei Ansprüche stellen will.»
«Das glaube ich Ihnen, ich lasse aber nicht gerne fremde Menschen in meine Wohnung.»
«Das akzeptiere ich natürlich, dann treffen wir uns an seinem Grab.»
«Der Weg dorthin ist zu kompliziert. Also, kommen sie bitte zu mir.»
«Ich bin mit meiner Frau hier, kann ich sie mitbringen?»
«Ja, natürlich.»
Nachdem wir ihr sagten, dass wir den Weg zu ihr bereits kennen würden, machten wir uns erneut auf den Weg zu Frau Ducho. Als wir den kurzen Fussweg zu ihrem Haus betraten, kam sie uns entgegen. Anstatt zu zögern, kam sofort die Aufforderung: «Kommen Sie bitte mit!» Wir betraten eine hübsche Wohnung und nachdem wir uns nochmals vorgestellt hatten, nahmen wir Platz und konnten mit der Unterhaltung beginnen. Kaum sassen wir, klingelte es nochmals und eine Dame mit ihrer Tochter betrat die Wohnung. Es zeigte sich, das es die Schwester von Frau Ducho – mittlerweile schon Tante Anni, einer sympathischen Frau – war. Im Verlaufe des Gesprächs liess die neu Angekommene Ursula wissen, dass meine Ähnlichkeit mit Fritz frappierend sei, sie hätte im ersten Moment gedacht, Fritz sässe da auf der Couch. Aus den vorliegenden Fotoalben wurden plötzlich Geschichten, die mir doch einige Klarheit über meinen Vater brachten. So zum Beispiel eine Aufnahme, auf die mein Vater mit einem grossen Blumenstrauss vor dem Spital in Holland stand. Dieselben Blumen sah ich in einem Album meiner Mutter auf ihrem Spitalbett. Tante Anni klärte mich dann auf. Gerade als Vater vor dem Spital stand, tauchte der Ehemann – Paul Melzer – auf und stellte meinen Vater zur Rede. Herr Melzer verlangte von meinem Vater, dass er ca. eine halbe Stunde Zeit hätte, meiner Mutter die Blumen abzugeben, ein Dokument zu unterschreiben, das festhielt, dass der Junge, das Kind eben, von ihm, Herrn Melzer sei. Dann könne sich mein Vater noch verabschieden und das sei es dann mit der Vaterschaft und der gemeinsamen Zukunft gewesen. Würde er sich weigern, hätte er kraft seiner Stellung im Heer (schwarzer Ledermantel und Hakenkreuz Abzeichen am Mantelrevers) die rasche Möglichkeit, ihn an die Front zu versetzen. Er könne sich ja vorstellen, was das hiesse. Gerade er mit seiner Staublunge, die er als Bäcker eingefangen habe.
Mein Vater tat zunächst, wie ihm geheissen, unterschrieb aber nicht. Prompt erhielt er kaum drei Wochen später seinen Stellungsbefehl auf ein Minensuchboot. Da er in Boulogne in einer Kaserne seinen Dienst in der Küche tat, lag es nahe, dass er zur Marine einberufen wurde. U-Boote, Minensuchboote und Panzer waren zu der Zeit die Waffen, mit denen man ziemlich sicher mit dem Tod rechnen konnte. Und so kam es fast dazu. Ein englischer Jagdflieger versenkte das entdeckte Minensuchboot mit einem Torpedo. Mein Vater konnte sich mit einigen anderen retten, schwamm aber mit seiner Staublunge eine Zeit lang im kalten Wasser herum, bevor er gerettet werden konnte. Ein Bild zeigte ihn in englischer Gefangenschaft, er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Man konnte sich nun fragen, warum die Liaison mit meiner Mutter zu Ende ging. Einerseits hatte sie das, was sie wahrscheinlich wollte, nämlich ein Kind. Oder waren es die Kriegsereignisse an sich, die zu vielen Trennungen führten. Anders kann ich mir die Ende der 40er-Jahre als kleines Kind beschriebene Situation in der Lüneburger Heide nicht vorstellen. Doch zurück zu den Alben von Tante Anni. Da erschienen nochmals zwei Bilder, die mich total überraschten. Auf einem spielte ein kleiner Junge mit einem Hasen in einem Garten, auf dem anderen sass er gut verpackt auf einem Schlitten im Schnee. Vom Album meiner Mutter her wusste ich, dass dort dieselben Bilder vorhanden waren. Auf meine Frage: «Wer sind denn diese Kinder in diesen Alben?», bekam ich von Tante Anni folgende, total überraschende Antwort: «Ja, wusstest du (wir waren mittlerweile dazu übergegangen) nicht, dass du noch einen Halbbruder aus der ersten Ehe deines Vaters hast?»
Das war nun wirklich der Clou am Ganzen. Da er in der damaligen DDR in Magdeburg lebte, wusste er zwar, dass da noch einer war, der mit einem Fritz Ducho mehr oder weniger verwandt war. Ich liess mir die Adresse geben und beschloss umgehend, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Das als Erstes, wenn wir wieder zuhause wären. Als kleines Abschiedsgeschenk erhielt ich von Tante Anni noch ein Glas Honig. Nicht irgendeines, nein, es war und ist eines der letzten Gläser, die mein Vater als Hobby-Imker noch hergestellt hat. Das Glas steht noch ungeöffnet als Andenken in unserer Wohnung. Nach rund 70 Jahren wird es wahrscheinlich auch nicht mehr geniessbar sein. Aber der Honig ist irgendwie noch ein letztes Lebenszei- chen meines Vaters. War das nicht endlich eine Möglichkeit, doch noch zu einer zumindest kleinen Familie zu kommen? Leider hat es zu Tante Anni keine weiteren Kontakte mehr gegeben, was ich irgendwie bedauere. Meiner Mutter, mittlerweile in einem Altersheim in der Nähe von Lörrach wohnend, erzählten wir von den Erlebnissen und den Geschichten. Das Ergebnis war nun absolut nicht das, was Ursula und ich uns vorgestellt hatten.
Sie bekam einen roten Kopf, drehte sich zur Wand und liess einigermassen ungehalten nur einen Satz von sich hören und der lautete: «Lasst mich mit dem ‹Zeugs› in Ruhe, ich will nichts mehr davon hören!» Das war’s dann wohl mit der Familienbildung und wir mussten diesen Entscheid wohl oder übel akzeptieren und gingen enttäuscht wieder zurück nach Riehen.
Bruder Fritz und Familie
So wie ich es der Gattin von Fritz Ducho in Bardowick versprochen hatte, überlegte ich mir schon auf dem Heimweg von Lüneburg, wie ich mit meinem Halbbruder Fritz rasch und unkompliziert Kontakt aufnehmen könnte. Er wusste zwar, dass es mich gab, aber wo ich zuhause war, konnte er nicht wissen. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder ein Brief der formvollendet daherkam, oder einer der, wie bei Brüdern üblich, formlos und ohne grosse Floskeln seinen Adressat finden würde. Ich entschied mich für einen Weg dazwischen. Die erste halbe Seite waren Zeilen, wie man sie einem Fremden schreiben würde. Dann aber wechselte ich in das vertrautere «Du» und gab Fritz ein paar Details aus meinem Leben bekannt. Die Annahme, das ich eine Antwort bekam, ergab sich keine zwei Wochen später mit einem Brief, der überraschend und freudig in Riehen landete. Es war natürlich klar, dass Fritz keine grossen Reisemöglichkeiten in den Westen hatte, da auch Magdeburg eine Grossstadt in der DDR war. So vereinbarten wir, dass ich zunächst nach Magdeburg kommen würde. Ein Termin wurde rasch gefunden und los ging die Reise ins Ungewisse. Unser Auto war natürlich mit allen möglichen Dingen beladen. Sachen, von denen wir wussten, dass diese in der DDR Mangelware waren. Über Fulda und – mit gebührendem Abstand – der Zonengrenze entlang erreichten wir Helmstedt, den Grenzort zur DDR.
Wenn man erstmals in eine Gegend kommt, in der jede Menge Stacheldrahtzäune, grosse Wachtürme mit Scheinwerfern und jede Menge Zollbeamten und Soldaten der Volksarmee der DDR bewaffnet mit Maschinenpistolen herum laufen, ist das schon kein angenehmes Gefühl. Dies wurde noch extremer, als wir unsere Pässe zeigen mussten und die dann – einfach so – auf einem verdeckten Förderband verschwanden. Man kommt sich psychisch betrachtet regelrecht nackt vor ohne Schutz und ohne eine Möglichkeit sich auszuweisen (mit Ausnahme der ID). Nach dem Aufsuchen einiger Büros und gecheckt von streng dreinblickenden Beamten händigte man uns die Pässe wieder aus. (Ein paar Mal musste ich mir ein Grinsen verkneifen, so paradox erschien mir das Ganze.) Versehen mit dem Einreisestempel des «Arbeiter- und Bauernstaates» ging es weiter. Wir waren noch nicht ganz fertig, denn mit dem Auto mussten wir noch einige Schlangenlinien um Schlagbäume und mit nochmaligem Vorweisen unserer Pässe umrunden, bevor wir so etwas wie freie Fahrt hatten. Die Wohnung von Fritz und seiner Familie in Magdeburg hatten wir bald gefunden und es gab eine freudige Begrüssung. Fritz arbeitete im Rangiersektor der Reichsbahn der DDR. Da Fritz nicht in der Partei war, hatte er auch in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (der SED) keine grossen Chancen auf einen beruflichen Aufstieg. So rasant war man auch «drüben» weg vom Fenster, wenn man die ideale Spur verliess. Elisabeth war in einer Metzgerei als stellvertr. Verkaufsleiterin tätig, Ines arbeitete in einem Spital und Uwe war gerade als Taucher in der Ausbildung bei der Volksarmee. Öffentliche Kritik vertrug man in der DDR kaum, aber Uwe liess mich doch wissen, dass westliche Sporttaucher die bessere Ausrüstung hätten als die Armee der DDR. Es gab immer wieder Krankheitsfälle beim Tauchen in der nicht gerade sauberen Elbe. So verbrachten wir vier oder fünf eigentlich angenehme Tage am Elbufer und in der Stadt Magdeburg. […]
Dann war es Zeit für den Abschied, der nicht verging, ohne weiterhin in engem Kontakt zu bleiben. Die Fahrt nach Helmstedt zurück verlief problemlos bis auf einige Warnschilder in zehn und fünf Kilometern vor der Grenze. Sie trugen folgende Information: Letzte Ausfahrt für Bürger der DDR. Wir waren ehrlich gesagt froh, als wir die erneut mühsame Abfertigung inkl. Durchsuchung des Fahrzeugs hinter uns lassen konnten und auf der Westseite wieder frei und unbeschwert atmen konnten.