Ein Pilzwunder

Aus: Barbara Frei-Koller, Im Schritt-Tempo durch die Schweiz

Im Buch erzähle ich, wie mein Mann und ich in den Jahren 1999 bis 2003 jeweils im Spätsommer ca. zwei Wochen zu Fuss unterwegs waren, immer gerade so weit, wie es unsere Kräfte zuliessen. Mein Mann auf Schusters Rappen und ich im Rollstuhl. Der unermüdliche Swiss-Trac, ein kleines batteriebetriebenes Rollstuhlzuggerät, ermöglichte uns geradezu Unmögliches und zog mich und unser Gepäck von Basel bis Disentis. Bevor wir weiter rheinaufwärts auf den Oberalppass wanderten, beschlossen wir den Lukmanierpass und das Val da Medel kennenzulernen.

Das traumhafte Herbstwetter war verführerisch. Mit dem Postauto liessen wir uns zum Lukmanierpass führen. Von dort nahmen wir den Weg zurück nach Disentis unter die Füsse resp. Räder. Der Wanderweg um den Lai da Sontga Maria auf dem Lukmanierpass war fantastisch. Glasklar das grünblaue Wasser, stahlblau der wolkenlose Himmel, strahlend die Sonne und vor allem gar kein Zeitdruck. Still und stumm gingen wir dem Ufer entlang. Eine fast heilige Atmosphäre umgab uns. Die Natur präsentierte sich in ihrer schlichten Schönheit, umgeben von der überwältigenden Kraft der Berge. Auf der Staumauer wurde mir fast schwindlig, denn auf der einen Seite war das Wasser mit seiner wuchtigen Kraft gegen die Staumauer, auf der anderen Seite ganz weit unten ein dünnes Rinnsal, La Froda, die sich auf ihrem Weg hinunter ins Tal immer kräftiger entwickelt, sich in Pardatsch Dadens mit dem Rein da Cristallina verheiratet, und sich schliesslich als Rein da Medel Richtung Disentis davonmacht. Für uns ging’s nicht so schnell, leichtfüssig und fliessend, aber allen Widrigkeiten zum Trotz war der Bergweg mit Rollstuhl gerade noch befahrbar. Was für eine Freude! Wir sogen die Schönheit dieser Erde in uns auf wie ausgetrocknete Schwämme, füllten unsere Körper mit der Wärme der Sonne, dem Duft der Pflanzen und der frischen Bergluft.

Im Sogn Gagl trennte sich Franz von mir und stieg hinunter auf einen munzig kleinen Fussweg entlang dem Flüsschen La Froda. Für mich im Rollstuhl unmöglich. Wir blieben aber immer in Blickkontakt. Sowohl er auf seinem kleinen schmalen Wanderweg wie auch ich mussten uns gut auf den Weg konzentrieren, denn er war steinig, löchrig, felsig, erdig und ab und zu doch auch mit Gras überwachsen. Franz stellte Fuss vor Fuss, mit besonnenem Blick auf den Weg. Ich hingegen musste immer wieder mit meinen Augen in der Gegend herumschweifen. Da entdeckte ich etwas äusserst Merkwürdiges. Die Wiese unten bei Franz war auf einmal übersät mit grösseren und kleineren weissen Punkten. Von meinem Weg der etwas in der Höhe lag, konnte ich nicht identifizieren, was das sein sollte. Mit Rufen und Winken versuchte ich Franz zu erreichen. Ich machte ihn mit Zeichen auf die Entdeckung aufmerksam. Was ist uns denn da Kostbares über den Weg gewachsen? Neugierig wartete ich auf seinen Bescheid. Pilze, wunderschöne schneeweisse Boviste!

Franz füllte das kleine Rucksäckli mit den Pilzen, auch den Plastiksack und was wir sonst noch so bei uns hatten. Ein solch wertvolles Geschenk hatten wir nun tatsächlich nicht erwartet. Doch plötzlich wurde uns etwas mulmig. Was machen wir jetzt mit all den Pilzen? In unserer Euphorie überlegten wir wenig. Was für eine Schande. Im Hotel angekommen, fragten wir beschämt und mit etwas schlechtem Gewissen den Besitzer, ob er uns erlauben könnte, die Pilze in den Kühlraum stellen zu dürfen. Als er die Bescherung sah, erwiderte er: «Tja, heute ist Mittwoch. An einem Mittwoch ist es im Bündnerland verboten, Pilze zu sammeln, zudem darf man nie mehr als ein Kilo ernten.» Wir hatten sicher deren zwei, er hätte uns anzeigen können. Nach seiner Schelte, die uns ziemlich in Verlegenheit brachte, meinte er: «Aber besser, als die Pilze in einen Kühlraum zu stellen, kochen wir Ihnen ein gutes Abendessen.»

Und tatsächlich, wir wurden mit einem herrlichen Pilz-Fünfgangmenü überrascht: Pilze gebraten, Pilze an einer delikaten Kräutersauce, Pilze als Salat, Pilze gebacken in einem Bierteig und Pilze geschnetzelt an einer köstlichen Rahmsauce. Es war wie Weihnachten!

 
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Auf Irrwegen zum Halbbruder