Drei Kindheitserinnerungen
Aus: Regula Amacher, Der Liebe Mühe ist die Zeit
Wunderbar geborgen
Durch den Spalt der Tür dringt Licht ins Kinderzimmer. Das Kind liegt im Bett. Es hört die Eltern ins Badezimmer gehen, hört ihre gedämpften Stimmen und dann das plätschernde Wasser. Das Kind fühlt sich wie ein Küken, wunderbar geborgen. Das Licht fällt auf seine geschlossenen Augen. Plötzlich ist da ein leuchtend warmes Rot. Lichtpunkte glühen auf und verlöschen, Schattenflecken werden grösser und ziehen sich wieder zusammen. Wie sein Herz klopft und der Atem kommt und geht! Die Tür des Badezimmers öffnet sich. Die Eltern flüstern im Gang. Das Licht wird gelöscht.
Mitten in der Nacht ist ein schlaftrunkenes Kind unterwegs. Unvermutet steht es mit nackten Füssen auf den Steinkacheln im Badezimmer und fröstelt. Die Nacht schickt ein weiches Mondlicht durch das Fenster. Wo ist die Mutter? Ihre Kleider liegen auf dem Stuhl: Die Unterhose, das Hemd, die Strumpfhose mit den Füsslingen, die vom Stuhl herunterbaumeln und das Leinenkleid mit den Blumen. Das Kind schaut verstört auf die verlassenen Hüllen und Häute. Ist die Mutter herausgekrochen und weggeflogen?
Stiller Dolendeckel
Was ist das für ein Ding, mit dem das Kind redet? Ein Dolendeckel. Er liegt in der Ecke von Steintreppe und Haus. Für das Kind sind es drei Schritte bis zur Klingel. Gewöhnlich sitzt es auf der obersten Stufe und schaut auf das kreisrunde schwarze Ding hinunter. Dann wird es auf einmal wunderbar still und der Dolendeckel schaut zurück. Das Kind muss gar nichts dafür tun. Einfach nur da sein. Der Vater hat ihm gesagt, dass der Dolendeckel aus dem Feuer kommt und von flüssig zu hart und von heiss zu kalt gegangen ist. Das Herz des Kindes flattert ein wenig: Ist der Dolendeckel darum so schwer und unbeweglich? Ist das wie «leblos» sein? Das Kind hockt sich neben ihn. Was für ein schönes Muster der Dolendeckel auf seinem Gesicht hat, lauter Strassen kreuz und quer, dazwischen platt gedrückte Kästchen und aussen herum läuft eine Linie ohne Anfang und Ende. Das Kind streicht ihr mit leichtem Druck nach. Es hebt seine Hände und zeichnet eine gleiche Linie in die Luft, tippt den Dolendeckel flüchtig an und murmelt seinen Zauberspruch, der nur für ihn bestimmt ist und für niemanden sonst. Der Dolendeckel schläft ein und das Spiel ist zu Ende. Er hat wohl genug. Macht nichts. Der Dolendeckel ist von ernsthafter Natur. Er liegt stumm über einem schwarzen Schacht und bewahrt ein Geheimnis.
Die Ahnen
Im Treppenhaus zwischen der unteren und oberen Etage hängen zwei alte Portraits in dicken, dunklen Rahmen. Es sind verblasste Gesichter, eine Frau mit Haube, ein Mann mit Perücke. Sie passen gut zur düsteren Tapete mit den grossen faden Blumen und ihrem melancholischen Duft. Gerade an der Stelle im Treppenhaus, wo die Kinder gelegentlich verschnaufen, mustern die Ahnen mit ihren ältlichen und grämlichen Gesichtern eingehend die Kinder, bevor sie einen neuen Anlauf nehmen. Das Kind ahnt, dass die Ahnen ahnen, was sie für Kinder sind. Den Ahnen kann man nichts vormachen.