Einzelgänger
Aus: Roland Beeri, Zusammen stark
Da mein Vater höchstens alle zwei oder drei Wochen übers Wochenende nach Hause kam, wuchs ich eigentlich in einer Kleinfamilie auf. Das ist heute sehr häufig der Fall. Meine Mutter hatte als Damenschneiderin ihre Kundinnen, die regelmässig vorbeikamen. Daneben besorgte sie den Haushalt und Garten. Sie wurde auch regelmässig von ihren Schwestern besucht. Aber innerhalb der Gemeinde waren ihre Kontakte bescheiden. Ich kann mich nicht erinnern, dass uns jemand ausserhalb ihrer Verwandten oder den Kundinnen besuchte.
So wuchs ich in einem sehr begrenzten Beziehungsgefüge auf. Durch die Schule kamen noch die Schulkameraden hinzu. Da ich kein Draufgänger war, wuchs ich etwas isoliert auf, oft allein und mit mir selber beschäftigt. Meine Mutter ermunterte mich auch nicht, mich mit andern Kindern zu treffen. Wenn ich mich falsch verstanden oder ungerecht behandelt fühlte, konnte ich nicht auf die Unterstützung durch die eigene Familie zählen. Mutter fand eher noch, dass die Andern schon ihre Gründe hätten. Dieses Verhalten stützte mein Selbstwertgefühl und mein Selbstbewusstsein kaum. Ich schaute mehr darauf, nicht anzustossen oder aufzufallen. Unauffällig im Ganzen fühlt sich der Einzelne sicherer.
Obschon ich in der fünften und sechsten Klasse regelmässig vom Klassenlehrer geohrfeigt wurde, intervenierte meine Mutter nie in der Schule. Lehrer Rothenbühler sei sicher nicht grundlos handgreiflich geworden, nahm meine Mutter an. An meinem Vater gingen diese Alltäglichkeiten sowieso vorbei. Ich wüsste nicht, dass er sich an einem seiner Wochenenden für meinen Alltag, für mein Wohlbefinden interessiert hätte.
Ich erinnere mich bloss an eine einzige Begebenheit, wo wir zu Recht bestraft worden waren. Die Knaben hatten Unterricht im Schulzimmer, die Mädchen im Untergeschoss Handarbeiten. In der Pause spuckten wir auf die Fensterbänke des Handarbeitszimmers, um auf uns aufmerksam zu machen. Lehrer Rothenbühler liess uns im Korridor in einer Reihe aufstellen und verpasste jedem von uns eine Ohrfeige. Zum Glück stand ich in der Reihe weiter hinten. Bei mir hatte seine Kraft schon etwas nachgelassen. Ich war dabei und doch häufig allein. Die typische Situation eines Einzelgängers.
Mein Vater arbeitete während meiner ganzen Schulzeit auf verschiedenen Baustellen, wo Staumauern für Wasserkraftwerke entstanden. In all diesen Jahren verbrachte ich zweimal eine Woche bei ihm. Die eine Baustelle war auf der Göscheneralp, wo ein Staudamm gebaut wurde. Mein Vater arbeitete bei der Anlage, wo der Aushub verarbeitet wurde. Er war für den Betrieb und Unterhalt der Maschinen zuständig. Erstmals bekam ich einen Eindruck von der Arbeit meines Vaters und dem Leben auf einer Baustelle. Im Tessin, in Luzzone, am oberen Ende des Bleniotals, war Vaters letzte Stelle beim Bau einer Staumauer. Dieser Mauerbau begann zu Beginn der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Auch hier verbrachte ich eine Ferienwoche. Mein Vater arbeitete als Maschinist und war für das Funktionieren der Anlage zum Mischen von Zement und Sand zu Beton verantwortlich. Von diesem Aufenthalt sind mir noch ein paar Eindrücke präsent. Mein Vater hatte zu Beginn meiner Ferien Nachtschicht. Ich schlief in seinem Bett, wenn er arbeitete. Ich konnte auf Lastwagen mitfahren, die den Zement von Blenio zur Baustelle transportierten. Wie auf der Göscheneralp gab es keine anderen Kinder. Ich verbrachte meine Tage als Beifahrer und besuchte meinen Vater bei der Arbeit. Gemeinsam nahmen wir in der Kantine die Mahlzeiten ein. Pünktlich sassen die Männer um den Tisch. Frauen aus Italien trugen die Speisen auf. Die Schüssel ging reihum. Jeder schöpfte auf seinen Teller, die Ersten viel, für die Letzten blieb nur noch wenig übrig. Diese rücksichtslose Verteilung beeindruckte mich sehr. Auch mein Vater musste sich in dieser Männerwelt behaupten. Dass ihm an den Wochenenden der Schritt aus dieser Welt zu seiner Familie schwer fiel, war offensichtlich. Verstanden habe ich es wohl kaum. Aber es zeigte mir zwei wichtige Tatsachen: Ich war allein und musste mich selber wehren.