Entdeckungen

Aus: Verena Raaflaub, Vreneli

In der Wohnstube im Neuhaus stand ein Radio. Das war damals fortschrittlich, weil man sie noch selten sah. Das riesige Möbel aus Holz stand auf einer Kommode, hatte verschiedene Knöpfe, an denen man drehen konnte (alle durften, ausser ich), und vorne war es bedeckt mit einer Art Tuch oder starkem Netz. Genau da kamen Musik oder Stimmen heraus. Stundenlang sass ich davor und stellte mir ganz bildlich kleine Frauen und Männer vor, die in diesem Möbel sitzen, sprechen, singen oder auf kleinen Instrumenten Musik machen. Woher sollten die Stimmen sonst auch kommen? Die Erwachsenen sassen oft vor dem Radio und hörten Männer sprechen. Dann musste ich leise sein, und die Grossen machten meist betrübte Gesichter. Kriegsgeschichten. Mich interessierte das nicht. Ich wollte das Innenleben dieses Radios auskundschaften. Ich versuchte immer wieder, mit meinen Fingerchen ein kleines Loch in dieses Tuch zu machen, was aber streng verboten war. Nur zu gerne hätte ich die Figürchen bei ihrem Treiben beobachtet. Ich spürte sogar, wie sie sich bewegten. Wenn ich die Hand ans Tuch hielt, vibrierte es. Also musste in diesem Kasten Leben sein. Höchst interessant!

Von Götti und Gotte bekam ich jede Weihnachten einen grossen Lebkuchen, darauf glänzende neue Fünfliber. An die Zahl kann ich mich nicht erinnern, nur dass sie mit Zuckerguss (Tupfen) befestigt waren und sich nur schwer vom Lebkuchen lösen liessen. Ich musste dann die Fünfliber einzeln ablecken und vom Zucker befreien. Sie hatten einen eigentümlichen Geschmack, aber der Zucker war süss und gut. Die Fünfliber wanderten sofort in mein metallenes Kässeli im Buffet. Da blieben sie auch, weil das Kässeli oben einen Einwurf mit Zähnen hatte, die sich nicht öffnen liessen. Einen Schlüssel dazu hatten sie nur auf der Bank in Büren, wohin man das Kässeli von Zeit zu Zeit bringen musste, um das Geld in die grosse Kasse zu leeren. Ich stellte mir vor, dass da alle eine gleiche, aber grössere Kasse haben. Ich durfte mit Dädy auf dem Fahrrad nach Büren fahren und hob dort stolz und auf Zehenspitzen mein gefülltes Kässeli auf die Theke der Spar- und Leihkasse. Die Frau nahm ein Schlüsselchen, öffnete es, leerte die Fünfliber vor sich hin, zählte sie und warf alle mit einer schnöden Handbewegung in ihre grosse Schublade. Mir blieb das Herz stehen! Wie soll sie später wissen, welches meine Fünfliber waren, die schönen, glänzenden, neuen? Ich brach in entsetztes Geheul aus. Mein Geld, hin und weg, verloren! Dädy brauchte seine ganze Überzeugungskunst und Liebe, mich zu trösten. Dass dann in meinem Bankbüchlein ein anderer Betrag stand, verstand ich damals noch nicht. Zu Zahlen hatte ich noch kein Verhältnis, wohl aber zu wertvollen schönen Götti- und Gotte-Fünflibern. Meine Fünfliber! Viele Jahre später begann ich, Fünfliber zu sammeln, auch ältere. Es war jeweils Musik in meinen Ohren, wenn ich sie in meiner Büchse zur Bank brachte und sie durch die Zählmaschine rasselten. Sie verhalfen mir zu einigen schönen Reisen.

 
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Ein Komposthaufen an Erinnerungen

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