Grossvater Albert
Aus: Simone Sieder-Gigandet, Die Würze meines Lebens
Mein Grossvater hatte als junger Mann bei der päpstlichen Schweizergarde im Vatikan gedient. Er war stolz, diese aussergewöhnliche Erfahrung gemacht zu haben. Mit seiner eloquenten Gabe erzählte und schilderte er diese Periode als eine Lehre fürs Leben. Die prachtvollen traditionellen Uniformen, die Disziplin, die Regel, die Stadt Rom, die Reise und seine Mitstreiter gaben Stoff genug für verschiedene Berichte über diese Dienstjahre. Ich vermute, dass sogar seine Fantasie den Erzählungen einen gewissen Pfiff gab. Rom war schön, aber er sehnte sich nach dem Jura und der Freiberge-Region. Die Natur, die Wälder, die Tiere waren so weit weg und schienen nicht mehr vorhanden zu sein. Deshalb ist mein Grossvater nach Vertragsende gerne nach Hause zurückgekehrt, reicher an Erfahrungen, die er nicht missen möchte. Erfahrungen sind wichtig im Leben, sagte er mir und versuchte, mir dies zu erklären anhand der Erledigung meiner täglichen Aufgabe, die auch eine gewisse Erfahrung verlangen, um genau ausgeführt zu werden. Diese einfachen Vergleiche waren hilfreich und halfen mir zu verstehen, um was es ging. Diese Ratschläge sind heute noch präsent.
Nach der grossen Reise kam er zurück und übernahm den Familienbetrieb, wo er später mit seiner Frau Catherine und seinen drei Kindern lebte. Viel später, als alle Kinder das Haus schon verlassen hatten, verkaufte er sein Gut und übernahm einen grösseren Bauernhof zusammen mit der Schwester meiner Mutter und ihrem Mann. Die Jahre in Rom hatten ihm viel Zeit gegeben zum Nachdenken sowie die Gelegenheit zu lesen und sich weiterzubilden. Die neuen Erfahrungen, die er betreffend Gemeinschaft gemacht hatte und die vielen Ideen, die er gesammelt hatte, sollten später das Leben der Bauern vereinfachen.
Grossvater Albert war der geborene Bauer, er besass eine grosse Vielfalt an Tieren: Pferde, Kühe, Schweine, Hühner, Hasen, Fasane, Truthühner, Enten, Tauben, Hunde und Katzen. Er liebte seine Tiere und die Natur und war dankbar, sich dafür zu engagieren. Er hat mich gelehrt, diese Schätze zu respektieren und zu lieben. Ich durfte ihn überall begleiten und mithelfen. Bei verschiedenen Ernten war ich auch dabei und lernte vieles über die Kartoffeln, Zuckerrüben, Roggen, Hafen und Korn. Bei der Stallarbeit oder Fütterung der Tiere erzählte Grandpa, wie er damals mit seinem Vater die gleichen Arbeiten verrichtet hatte, und ich staunte immer wieder über sein breites Wissen. Schade, dass dieses wertvolle Wissen von niemandem aufgeschrieben wurde. Im Dorf war er sehr geschätzt und engagierte sich für die Bauern und ihre Anliegen. Albert, ein Hüne von einem Manne, wusste immer Rat. Mitglied in mehreren Komitees, half er neue Bauerngemeinschaften zu gründen, um die Feldarbeiten zu optimieren. Damals hatten nicht alle Bauern Traktoren, und die meisten arbeiteten noch mit den Pferden. So standen einige Traktoren für ein kleines Entgelt mehreren Bauern zur Verfügung. Sein Gedankengut war wie so oft weit voraus. Waren Tiere krank, fragte man erst Albert um Rat, er kannte viele hilfreiche Naturmittel. Sein Vater hatte ihm dies beigebracht während der vielen Wanderungen in den Freibergen, wo sie gemeinsam die Pferdezüchter besuchten. Er züchtete wie sein Vater zuvor Pferde für die Schweizer Armee.
Diese Liebe zu den Pferden hat er mir weitervermittelt. Mit fünf Jahren hatte ich meine erste Reitstunde. Grandpa setzte mich auf den Rücken von «Blanchette» und sagte: «Du muss sie gernhaben, der Rest kommt von allein.» Ab diesem Tag war «Blanchette», eine junge Stute mit weissen Flecken, mein Pferd. Das Reiten machte Spass, zuerst zusammen mit meinem Bruder, später durfte ich alleine mit «Blanchette» in den reizvollen Umgebungen reiten gehen. Später lehrte mich Grossvater, wie man die Pferde schmückt, damit sie bei einer Turnierteilnahme einen guten Eindruck hinterliessen. Zuerst wurden sie gebürstet, bis das Fell glänzte, und die langen Mähnen wurden geflochten und mit roten Bändern geschmückt. Pferdegeschirre wurden auf Hochglanz poliert und mit Rosetten verziert. Als Belohnung für meine Hilfe durfte ich ihn an das Pferdewagen-Rennen in Saignelégier (Freiberge) begleiten. Manchmal durfte ich sogar mit ihm auf der Kutscherbank sitzen. Ein Erlebnis für mich als 10-jähriges Mädchen, dabei sein zu können, und natürlich schmückten rote Bänder auch meine Zöpfe. Mein Bruder war mit von der Partie und durfte einen eigenen Wagen führen. Grandpa sagte voller Stolz: «Siehst du, genauso wie dein Bruder war ich auch mit zwanzig.»
Als Kind sass ich oft mit meinem Grossvater abends vor dem Haus, und zusammen betrachteten wir den Sternenhimmel. Er kannte alle Sterne mit Namen und zeigte mir, wo die Himmelkörper standen. Grandpa sagte, dass er selber einen Stern gewählt hatte, um sein Vertrauter zu sein. Das hatte ihm in schweren Zeiten geholfen, denn egal, wo er sich auf dieser Erdkugel befand, hat der Vertraute ihn begleitet. «Möchtest du auch einen Stern, der dir zuhört, wenn du traurig bist?», fragte er mit seiner warmen Stimme. «Oh ja, gerne», sagte ich, und zusammen suchten wir meinen Stern. Ich wählte einen kleinen Stern in der Waage. Das Nachtgestirn ist heute noch mein Vertrauter und es macht mich traurig, wenn ich ihn am Himmel nicht entdecken kann, aber ich weiss, er ist da und hört mir zu.
Von meinem Grossvater habe ich viel gelernt anhand von Beispielen und lehrreichen Erzählungen und nicht anhand von strikten Regeln. Das machte alles viel einfacher, viel verständlicher. Während er erzählte, zogen die dazu passenden Bilder an meinen Augen vorbei. So lange er lebte, war ich oft bei ihm in den Ferien oder zu Besuch. Danke, Grandpa, für alles, was du mich gelehrt hast. Vieles hat heute noch Gültigkeit, und es tut gut, jetzt diese schönen Erinnerungen niederschreiben zu können.