Tagebuch schreiben – schreiben übers Schreiben

Aus: Alfred Vogelsanger, Also ist auch Freiheit möglich

– Du hast mir telefoniert und mitgeteilt, dass dein Buch jetzt praktisch fertig erzählt ist. Was ziehst du für eine Bilanz?

– Eine Bilanz will ich nicht ziehen, sagt ihr Freund, ich bin ja schliesslich kein Buchhalter. Aber ein paar zusammenfassende Gedanken sind schon am Platz: Was sagen mir alle meine Tagebücher? Wie ist das mit dem «Schreiben übers Schreiben»?

– Und, was ist dabei herausgekommen?

– Gemach, sagt er, du musst mir helfen, das Ganze einzuordnen. Was interessiert dich besonders?

– Wie du schreibst und wann du schreibst? Schreibst du nur, wenn dir der Kopf raucht und das Herz zu zerspringen droht? Oder schreibst du auch beiläufig, aus Gewohnheit und ohne ersichtlichen Anlass?

– Hmm, lass mich nachdenken. Wir müssen unterscheiden: Tagebuch schreiben, das kann ich immer – abends spät, am Morgen früh, auf Reisen, in den Ferien, daheim im stillen Kämmerlein und auch unterwegs im Zug oder Flugzeug. Anders verhält es sich mit dem Briefe-Schreiben oder jetzt beim Schreiben eines «echten» Buches. Das geht nicht leichthin.

«Wenn ich schreibe, bin ich nicht mehr allein. Nur dann sind für Momente die Gedanken gebändigt. Sonst zerfliessen sie. Tauchen auf wie Blitze, versinken in etwas, was nie wieder zugänglich sein wird. Die Tür fällt zu, wenn sie nicht sofort aufgeschrieben werden. Das Schreiben ist meine mir selbst angetane Seelsorge. Am besten unterhalte ich mich mit mir selbst – dann stottere ich nicht, habe kein schlechtes Gefühl wie beim Sprechen, fühle ich mich wohl.» So sagt es Birgit Heiderich im Essay «Mit geschlossenen Augen».

In einem Interview in der Zeitschrift «Wendekreis» (6-2011) berichtet die Schriftstellerin Lore Dürr unter der Überschrift «Das Schreiben musste ich nicht entwickeln, es war einfach da»: «Von sich selbst erzählen, ist in den meisten Fällen eine Fussangel des Teufels – zum Glück nicht in jedem Fall und manchmal auch nur zum Teil. […] Ich möchte in meinen Büchern meine geistige Unruhe mit anderen teilen.» Auch das ist ein «Programm», dem ich zugetan bin. In gewisser Hinsicht hat mein Tagebuchschreiben auch etwas Zwanghaftes. Es entwickelt einen Sog, dem ich mich kaum entziehen kann. Wenn ich mich hinsetze, «schreibt es». Ja, ich glaube, so ist es!

Einmal, es war am 26. August 2010, machte ich einen Jubilarenbesuch bei Frau Dora Bingler, Ob dem Hölzli 12 in Binningen. Sie war gerade 90 Jahre alt geworden und empfing mich freudig. Wir stellten sogleich viele gegenseitige Übereinstimmungen fest: den Bezug zur Kirche, zu Nachbarn und gemeinsamen Bekannten. Und dann bemerkten wir, dass uns etwas Grossartiges verbindet: das Tagebuchschreiben! Frau Bingler zeigte mir einige ihrer Werke – ich war bezaubert und hingerissen. Sehr gerne setze ich ihr hier in meinem Buch ein kleines «Denk-mal» – bald nach unserer Begegnung ist sie verstorben.

«Warum schreibe ich Tagebuch?», schrieb ich unter meinen Eintrag vom 26.8.2010, den ich kopiert habe und ins Arbeitsheft für das «Unik»-Buch klebte, und fuhr dann fort mit der Antwort: «Um die Sehnsucht nach dem LIEBENKÖNNENWOLLEN zu bannen, sie kreativ zu bewältigen.»

Das ist die Wahrheit. Natürlich finden sich auch ganz viele Banalitäten in all den Hunderten von Aufzeichnungen. Dabei immer wieder das Thema «Cherchez la femme». Immerhin sind die vielen Bilder ästhetisch schön und stets farblich und grafisch passend komponiert und arrangiert. «Bei dir sieht man ja nur schöne junge Frauen im Tagebuch», meinte einmal – und das ist jetzt schon viele Jahre her – Annemarie, meine damalige Kollegin aus der Jugendarbeit. Mit ihr zusammen hatte ich dreimal «Ferien für Grosseltern mit Enkelkindern» organisiert und geleitet. Es war genial! Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Im «ERINNERUNGSALBUM FÜR ELFI» fügte ich dieses Zitat ein: «Die Furcht vor dem Alter erklärt sich nur zum Teil aus der Gewissheit, dass es den Zeitpunkt bedeutet, wo man sterben muss. Gleich stark, wenn nicht stärker, bedrückt der Gedanke, dass sich der Tag nähert, an dem man als Liebender nicht mehr in Betracht kommt. Mann und Frau möchten bis zuletzt, bis in die Greisenjahre hinein, wenn sie schon auf das Leben verzichten sollen, zumindest zur Liebe befähigt bleiben. Bleicht auch das Haar, verrunzelt auch die Haut, solange dieses Tor in die Verzauberung, in den Mythos nicht zufällt, leuchten noch Heilsmöglichkeiten. Solange man sich anschliessen kann, darf man sich aufschliessen. Ist das vorbei, bricht über das Herz Finsternis, Vereisung, letzte Verlassenheit.» (Markus Hübner, 1886–1964, in «Zugang zur Welt»).

– Die Übereinstimmung mit dieser Aussage ist für mich einer der Gründe, um weiterhin unverdrossen Tagebuch zu schreiben, fährt der Erzähler jetzt fort. Die jungen Frauen interessieren mich nicht. Hingegen haben die alten und speziell die sehr alten Frauen – und sicher auch die Männer! – so viel Spannendes und Wunderbares zu erzählen!

– «Wie recht du hast!», pflichtet Elfi bei, «hör ihnen weiterhin zu!»

 
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