Dem Frosch ist kalt

Aus: Margret Ammann, Luftwurzeln

Mit der Geburt des dritten Kindes kam ein Kindermädchen ins Haus. Es war zu anstrengend für die Mutter mit einem Neugeborenen und zwei Kleinkindern. Die Dreijährige war von Anfang an immer wieder krank gewesen und ihr Sorgenkind. Das Kind atmete mit Schwierigkeiten, schlief sehr unruhig und hatte nur sehr langsam an Gewicht gewonnen. Die ältere Tochter dagegen war nicht zu bändigen. Aufmüpfig und jedem Blödsinn zugetan. Vor ein paar Tagen erst, was für eine Bescherung, sie kam ins Kinderzimmer, kein Kind weit und breit, aber in der Mitte des Zimmers stand das Kinderstühlchen, und darum herum lagen die Locken der mittleren Schwester. Als einzige hatte diese dunkles und welliges Haar. Jetzt waren sie einfach abgeschnitten worden. Man musste nicht fragen, wer hier am Werk gewesen war. Was da hätte passieren können!

Salome, das Kindermädchen, kam jeden Morgen und ging als erstes mit der Älteren spazieren. Nicht weit von zu Hause gab es einen Park mit großen, alten Bäumen. Das Kind kletterte mit Begeisterung in die Bäume und suchte sich einen Ast, von wo sie ganz weit schauen konnte. Hier wurde sie ganz ruhig und war einfach glücklich. Salome stand derweil mit anderen Kindermädchen zusammen, sie redeten und lachten viel. Später ging Salome mit dem Kind in eine Kirche. Diese Kirche war so ganz anders als diejenige, die sie mit den Eltern besuchte. Die Kirche hier war viel größer, steinern und sehr kühl. Ein schwerer Weihrauchduft hing in der Luft. Salome kniete sich in eine der vorderen Reihen nieder, senkte den Kopf und faltete die Hände. Das Kind setzte sich daneben und bewunderte die große Figur der sitzenden Madonna, eingehüllt in einen blauen Mantel. In der Kirche war es still, und das Kind schaute sich lange um. Salome erklärte ihr, dass die Mutter Gottes alle Frauen beschützen würde, man könne sie in der Not immer fragen. Zum Mittagessen waren sie dann wieder zu Hause.

Salome konnte wunderbar singen, und das Kind sang bald mit. Es waren melancholische Melodien aus dem brasilianischen Nordosten. Das Kind liebte besonders das Lied über den schreienden Frosch am Flussufer. Wenn er schrie, dann wusste man: ihm war kalt. Ganz still wurde es, wenn Salome den Vollmond über dem Sertão, dem fernen Landesinneren, besang. Das Kind konnte sich nicht satthören.

Salome hatte selber zwei kleine Kinder. Sie wohnte weiter weg. Einmal besuchten sie Salome zuhause. Es war eine lange Fahrt. Salome wohnte mit ihrer Mutter und den beiden Kindern in einer kleinen Hütte in einem Gewimmel von schrägen, engen Behausungen unter Wellblechdächern. Es war ein sonniger und freundlicher Tag. Die Mutter hatte einen großen Korb mit Kleidern, Reis und Bohnen eingepackt. Und ein Blech mit ihrem duftenden Quarkkuchen. Für das Kind war es die erste Begegnung mit Armut und die Ahnung, dass es etwas gab in der Welt, das nicht in Ordnung war. Der heitere Tag konnte nicht darüber hinwegtäuschen.

Eines Tages kam Salome nicht mehr. Das Kind fragte und suchte, aber keiner konnte Auskunft geben. Dann hörte es zufällig, wie sich zwei Kindermädchen auf der Straße unterhielten. Salome habe ihren Mann erstochen, wusste die eine; er habe sie geschlagen, ergänzte die andere. Salome sei noch in der Nacht weg, und keiner wisse wohin. Das Kind aber wusste, Salome war sicher dem Vollmond gefolgt. Seitdem weckten die Lieder in ihr eine schmerzhafte Sehnsucht. Salome kam nicht wieder.

 
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