Durch ein Wunder blieb ich am Leben

Aus: René Kummer, JA zum Leben

«JA zum Leben» ist die Geschichte eines besonderen Lebenswegs. Während der Lehre bei den SBB wurden mir durch eine Rangierlokomotive beide Beine abgefahren. Innert Sekunden veränderte sich mein Leben auf brutale Weise. Wie weiter? Mit viel Lebensmut und Durchhaltewillen stellte ich mich auf die neuen, gänzlich veränderten Lebensumstände ein. Nachdem ich die Operation, bei der mir beide Beine amputiert werden mussten, überstanden hatte, entschied ich mich, JA zu sagen. JA zu einem Leben als Schwerbehinderter. Die vielen positiven Erlebnisse, Heirat, Kinder, Beruf und sportliche Erfolge zeigten mir, dass diese Entscheidung richtig war. […]

Durch ein Wunder blieb ich am Leben

Wenn ich heute wieder an jenen 7. Mai 1962 zurückdenke, als ich schwer verletzt unter der Rangierlok lag, konnte ich in jenen dramatischen Minuten eigentlich keine klaren Gedanken fassen, auch ans Sterben dachte ich nicht und Schmerzen plagten mich keine. Der Schock war zu gross. Allerdings kam ich mir sehr verlassen vor, denn der Rangierlokführer hatte mich schreckerfüllt allein gelassen. Doch plötzlich kam Leben in die Szenerie. Ein Mann beugte sich zu mir nieder, fragte nach meinem Namen und ob ich ihn verstünde. Ich machte entsprechend Bescheid und merkte dabei, dass er sich an meinen Beinen zu schaffen machte. Was ich nicht wusste, der Mann war Arzt und er war im Begriff, mein Leben zu retten. Seine Geschichte war in diesen ersten Maitagen auf wundersame Weise mit meinem Schicksal verbunden, nur wussten wir dies beide nicht. Dr. Hediger war ein junger Arzt, dem auf dem Militärflugplatz Dübendorf die medizinische Betreuung und Begleitung der Militärpiloten oblag. Am Samstagnachmittag fuhr er von der Arbeit an seinen Wohnort Weiach zurück. «Ich glaube, ich habe Fieber», klagte er seiner Gattin. Diese beorderte ihn ins Bett, machte Tee und verpasste ihm fiebersenkende Medikamente. Wie er mir einige Wochen nach dem Unfall bei einem Spitalbesuch erzählte, sei er das ganze Wochenende im Bett gelegen und habe versucht, seiner Erkältung Herr zu werden, leider ohne Erfolg. «An jenem Montagvormittag lag ich missmutig im Bett und sah vor meinem geistigen Auge dauernd meinen mit Arbeit beladenen Schreibtisch in Dübendorf», erzählte er. «Plötzlich, als wäre es ein Wink von weiss nicht woher, hielt ich es nicht mehr aus im Bett, ich stand auf und zog mich an. Innerlich wusste ich einfach, dass ich gehen musste, weil ich in Dübendorf gebraucht wurde. Gegen elf Uhr telefonierte ich mit einem Mitarbeiter und sagte ihm, dass ich am Nachmittag zur Arbeit kommen werde.»

So stieg der Arzt kurz vor Mittag in seinen Wagen, fuhr unbewusst meinem Schicksal entgegen und langte kurz nach 12:30 Uhr beim Bahnübergang in Niederglatt an, wo er vor den geschlossenen Schranken anhielt. Der Schnellzug brauste durch, die Barrieren blieben unten. «Jetzt fahre ich halb krank zur Arbeit und nun lassen die mich hier einfach stehen», dachte er und blickte aufgebracht gegen das Bahnhofgebäude. «Da sah ich jemand neben dem Gleis bei einer Rangierlok im Schotter liegen und dachte im ersten Moment, jemand sei aus dem Zug gefallen.» Rasch wendete er seinen Wagen und fuhr zum Bahnhof. Da fand er mich allein im Schotter liegen und den Himmel betrachten. Wie er weiter sagte, sei er zum Auto gerannt, habe seinen Arztkoffer geholt und begonnen, den Rest meiner Beine mit Bandagen ab zu binden, um so immerhin den ärgsten Blutverlust zu mindern. In der Zwischenzeit war auch der alarmierte Stationsvorstand am Unfallort erschienen. Er hatte bereits den Notfallarzt und das Spital in Bülach alarmiert. Bis zur Ankunft des Rettungswa- gens wurde ich auf einer Bahre in den Wartsaal getragen. Noch immer war ich bei vollem Bewusstsein und hatte realisiert, was mit mir passiert war. Kurz vor zwei Uhr wurde ich im Spital eingeliefert. Dr. Hediger hatte zusammen mit dem Notfallarzt den Transport begleitet. Bülach war ein Regionalspital. Es verfügte wohl über die notwendige Infrastruktur für eine so grosse Operation und hatte mit dem Chirurgen Dr. Hofmann einen überaus fähigen Chefarzt. Allerdings waren zu wenig Ärzte im Dienst und so hatte das Spital meinen Retter gebeten, ebenfalls nach Bülach zu kommen, um bei der Operation zu assistieren. Da ich einen enormen Blutverlust erlitten hatte, wurden Blutspenderinnen und Blutspender aus dem Ort aufgeboten, um direkt zu spenden. Nach einer rund siebenstündigen Operation erwachte ich gegen neun Uhr abends. Meine Eltern standen traurig an meinem Bett. Sie konnten kaum sprechen, so hatte sie die Meldung von meinem Unfall getroffen, die sie aus heiterem Himmel erreicht hatte.

Im Spital Bülach begann ein neuer Lebensabschnitt

Oftmals schon wurde ich nach meinen ersten Gedanken gefragt, die ich nach dem Aufwachen gehabt habe. Ich kann’s nicht sagen, immerhin wusste ich, was mit mir passiert war. Während zwei Wochen schwebte ich damals zwischen Leben und Tod, wobei mir dies nicht bewusst war. Ich erhielt recht hohe Dosen morphinhaltige Schmerzmittel, die mir das Leben trotz meiner fehlenden Beine, das rechte hatte man mir oberhalb und das linke unterhalb des Knies amputieren müssen, in einem rosafarbenen Licht erscheinen liess. Ich merkte die Wirkung der Medikamente erst, als man sie absetzen wollte. Mit voller Wucht traf mich die Erkenntnis, dass mein Leben nun einen ganz anderen, mir noch völlig unbekannten Lauf nehmen würde.

 
 
Zurück
Zurück

Die Norweger

Weiter
Weiter

Dem Frosch ist kalt