Die Norweger

Aus: Charlotte Häfeli, Wege und Umwege

Nach dem schrecklichen 1. April 1944 dauerte es noch ein ganzes Jahr, bis der Krieg wirklich zu Ende ging. Unsere Stadt wurde, zum Teil mit finanzieller Hilfe aus den USA, nach und nach wieder aufgebaut. Ganz in der Nähe meines Elternhauses entstanden grosse Barackenlager, die ursprünglich für die Obdachlosen gedacht waren, die bei der Bombardierung der Stadt ihr Zuhause verloren hatten. Später wurden dort die vielen Flüchtlinge untergebracht, die gegen Ende des Krieges über die Grenze kamen. Als aber die Zahl der flüchtenden Menschen immer weiter anwuchs, musste auf der grossen Wiese zwischen dem Zeughaus und der Klinik Breitenau ein weiteres Lager gebaut werden. Schon im eisigen Winter 1944/45 sahen wir ganze Gruppen von fremden Soldaten ankommen, trostlose, durchgefrorene Männer mit müden Gesichtern. Einige trugen noch ihre abgerissenen Uniformen, andere wiederum hatten sich auf ihrer Flucht mit alten Pullovern und Mänteln eingedeckt. Noch Wochen nach dem Kriegsende, bis weit in den Sommer hinein, gelangten diese traurigen Gestalten in die Schweiz. Wenn wir an diesem Lager vorbei in die Stadt hinunter gingen, standen oft einige dieser Männer am Zaun und winkten uns zu. Mir waren sie unheimlich, aber meine Schwester Jeannette luchste meinem Vater immer wieder ein Paket seiner amerikanischen Zigaretten ab und steckte sie den internierten Flüchtlingen durch den Zaun zu. Ein ganz bestimmtes Bild habe ich immer noch im Kopf – ich sehe noch genau vor mir, wie einer dieser Männer das kleine Paket mit dem Kamel auf der Oberseite gierig aufriss, sich eine Zigarette ansteckte, einen tiefen Zug nahm und sie dann seinem Nachbarn weiterreichte. Am Abend hörten wir die Männer manchmal singen, schöne, traurige Melodien. Meine Schwester erklärte mir, dass die Männer gegen das Heimweh singen würden.

Im Juni 1945 traf auch eine Gruppe von 77 Norwegern in Schaffhausen ein. Es waren die überlebenden Widerstandskämpfer aus der Stadt Bergen, die 1941 von einem Spitzel aus den eigenen Reihen an die deutschen Besatzer verraten worden waren. Zuerst wurden alle nach Kiel in ein Gefängnis der Gestapo gebracht, und im Herbst 1944 verlegte man diejenigen, die dann noch lebten, in das KZ Dachau. Die amerikanischen Truppen haben dieses KZ am 28. April 1945 befreit, und dank der Initiative unseres damaligen Stadtpräsidenten Walter Bringolf durften sich diese Norweger vor ihrer Rückführung in die Heimat in unserer Stadt erst einmal erholen. Die Schaffhauser Bevölkerung hat diese ehemaligen KZ-Häftlinge, die während ihrer Haft Schreckliches erleben mussten, mit offenen Armen empfangen. Nach einer Zeit in Quarantäne wurden sie oft von Schaffhauser Familien eingeladen, und so entstanden viele Freundschaften, die dann oft ein Leben lang gepflegt wurden. Bei Tante Klara, einer Schwester meiner Grossmutter, war Peder Tarlebö oft zu Gast. Als ich Peder zum ersten Mal bei meiner Tante sah, war er ganz schrecklich mager. Er war ein gross gewachsener Mann, aber er wog damals bestimmt keine 45 Kilo. Er sprach ein wenig Deutsch mit einem lustigen Akzent, und wir verstanden uns auf Anhieb bestens. Er erzählte mir von seiner Heimatstadt Bergen, wo er vor dem Krieg Kommandant der Feuerwehr gewesen war. Die Altstadt von Bergen sei ganz aus Holz gebaut und im Hafen gäbe es viele wertvolle, alte Segelschiffe. Wenn da etwas zu brennen beginne, sei die Feuerwehr sehr wichtig. Der Sommer war heiss und wir durften zusammen in die «Badi» am Rhein, ich begleitete ihn auf seinen langen Spaziergängen in der Umgebung und Tante Klara nahm uns auch mit in ihre Hütte auf dem Randen. Peder erzählte mir auf unseren Spaziergängen viel von seiner Frau Gerd, die er kurz vor seiner Verhaftung geheiratet hatte. In all den Jahren seither konnte er ihr nie eine Nachricht zukommen lassen. Keine Briefe, kein Lebenszeichen, einfach nichts! Sie musste annehmen, dass er gar nicht mehr am Leben war. Das vor allem machte ihm grossen Kummer. Erst viele Jahre später habe ich dann erfahren, wie die Überlebenden der langen KZ-Haft von Schaffhausen aus ihren Familien endlich eine Nachricht übermitteln konnten.

Als unsere Norweger Ende August dann braungebrannt und einigermassen erholt endlich zurück nach Bergen transportiert werden konnten, flossen nicht nur bei mir die Tränen. Es gab da nämlich auch zwei schweizerisch-norwegische Liebespaare, die keine Ahnung hatten, wie es mit ihrer Liebe nun weitergehen sollte und was die Zukunft bringen mochte. Die Freude über die Heimkehr und der Abschiedsschmerz hielten sich sehr wahrscheinlich in etwa die Waage. Am Bahnhof stand ein Zug bereit, beflaggt mit norwegischen und Schweizer Fahnen. Alle neugewonnenen Freunde hatten sich auf dem Perron versammelt, um die Heimkehrer zu verabschieden und ihnen eine gute Reise zu wünschen. Es herrschte ein riesiges Gedränge, weil alle «ihrem» Norweger noch etwas Wichtiges zu sagen hatten oder ihm noch ein Geschenk zustecken wollten. Peder verstaute erst seinen grossen Sack im Zug und stieg dann noch einmal aus. Er umarmte meine Tante Klara zum Abschied und dann hob er mich noch einmal hoch und sagte leise: «Farvel, min lilie jente. Leb wohl mein kleines Mädchen.» Dann stieg er endgültig ein. Als der Zug sich langsam im Bewegung setzte, winkte ich ihm hinterher, bis ich die Rauchfahne der Lokomotive nicht mehr sehen konnte. Ich war absolut untröstlich.

Kurz vor Weihnachten lag dann ein dicker Brief aus Norwegen in unserem Briefkasten. Peder war wieder in Bergen. Er hatte seine Gerd gefunden und er schrieb, dass er nun wieder Feuerwehrmann bei der Berufsfeuerwehr von Bergen sei. Gerd legte auch ein paar Zeilen bei und dazu ein norwegisches Schulbuch für Erstklässler. Sie schrieb, dass sie und Peder vielleicht auch bald ein Mädchen bekommen würden, und ich solle fleissig lernen, damit ich sie später besuchen und mit ihrem Mädchen spielen könne. Meine Schreibkünste waren bis dahin schon so weit gediehen, dass ich mich für das schöne Buch bedanken konnte. Dieser erste Austausch von Briefen war nur der Anfang einer langen Freundschaft. Unser Kontakt brach nie mehr ab, bis Peder 1995 im Alter von achtzig Jahren starb. Gerd und er bekamen zwei Töchter und später vier Enkel. Wir haben uns regelmässig geschrieben und uns auch gegenseitig besucht. Unsere Freundschaft, die in einer finsteren Zeit ihren Anfang nahm, hielt ein Leben lang und blieb immer etwas äusserst Kostbares für mich.

Es wäre hier nun noch nachzutragen, was Gerd mir über die Zeit nach Peders Verhaftung erzählt hat. Sie hatte wie alle anderen Angehörigen der Gefangenen während der ganzen vier Jahre nie etwas über den Verbleib von Peder in Erfahrung bringen können. Sie wusste nicht, wohin er gebracht worden war, hatte keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebte. Vier lange Jahre ohne Nachricht, ohne das geringste Zeichen. Das muss die Hölle für sie gewesen sein. Als die Männer dann in Schaffhausen ankamen, konnten sie durch die Vermittlung eines norwegischen Diplomaten, der in der Schweiz stationiert war, eine Schallplatte herstellen lassen, auf die jeder der Überlebenden der Haft seinen Namen sprach und dass er in der Schweiz in Sicherheit sei. Alles schön in alphabetischer Reihenfolge. Diese Schallplatte wurde als Diplomatenpost nach England geschickt und dort von Radio BBC für den norwegischen Rundfunk ausgestrahlt. Gerd hat mir erzählt, wie sie vor dem Empfänger sass und fast verzweifelte, weil die Namen so vieler Freunde fehlten und weil das T von Tarlebö so spät im Alphabet an der Reihe war. Und wie sie dann endlich, endlich seine Stimme hörte: «Jeg er Peder Tarlebö og jeg i sikkerhet i Sveits.» Ich bin Peder Tarlebö und ich bin in der Schweiz in Sicherheit. Sie machte sich auf die lange Reise nach Oslo, wo die Männer mit einem Schiff ankommen sollten. Doch die Reise durch das zerstörte Europa war noch sehr schwierig und niemand konnte ihr Auskunft geben, wann die Gruppe endlich eintreffen würde. Sie war froh, dass sie nicht die Einzige war, die wartete, denn nach und nach trafen auch die andern Frauen, Mütter und Schwestern ein, die ihre Liebsten in Empfang nehmen wollten. Als das Schiff dann mit fast zehn Tagen Verspätung im Hafen einlief und die Männer über die Reling an Land kamen, konnten die Frauen sie kaum voneinander unterscheiden, denn alle sahen gleich aus – sie waren immer noch sehr mager, braungebrannt, hatten kurz geschorenes Haar und alle trugen den hellblauen Overall, den sie in Schaffhausen vom roten Kreuz bekommen hatten. Es waren deshalb die Männer, die die Frauen zuerst erkannten und sie umarmten. So hat es mir Gerd nach vielen Jahren an einem hellen Sommerabend in Bergen erzählt.

 
coverCharlotteHäfeli.jpg
 
Zurück
Zurück

Mein eigenes Buch schreiben

Weiter
Weiter

Durch ein Wunder blieb ich am Leben