Hoi Berlin!

Aus: Claudia Jucker, Hoi Berlin

14.10.2016

Freitag, der 14. Oktober. Immer noch in Berlin. Max Frisch schreibt in seinem Berliner Journal: «Bilanz der vier Monate Berlin, dass die Zeit vergeht.» Heute sind es bei uns rund 27 Monate, seit wir hier leben. Und ja, die Zeit vergeht. Offensichtlich.

Heutige Bilanz in Zahlen: 131 Einträge #spuckersinberlin auf Instagram. Ein gestohlenes Fahrrad, ein versuchter Wohnungseinbruch, zwei Mal Flohmarkt, mit insgesamt 305 Euro Einnahmen (einmal 300 und einmal 5). Dreimal Sommer, einmal für 3 Wochen auf Mutter-Kind-Kur, fünf Mal Ferien in der Schweiz, zweimal Nordsee, einmal Ostsee, einmal Amsterdam, einmal Hamburg, einmal Kroatien. Besuch von vierzehn verschiedenen Personen aus unserem Freundes- und Familienkreis, wobei zwei davon bereits viermal hier waren (als Paare gerechnet). Eine Einschulung, zwei Kita-Eingewöhnungen, fünf Elternabende, einmal Halloween, zweimal Fasching, Kakteen wachsen zusammen fünf Zentimeter, gefühlte zwanzigmal Raclette gegessen, vier Raclette-Barren auf Vorrat im Tiefkühler, fünfmal Fondue gemacht, dreimal zum Essen eingeladen worden, siebenmal ausgegangen, zwei Konzerte besucht, fünfmal im Kino, unzählige schlaflose Nächte, fünf Flaschen Holundersirup von der Migros leer gemacht (eine angefangene steht noch im Kühlschrank), acht Gläser Schweizer Marmelade aufgegessen. Zehn Pakete gesucht und teilweise gefunden, dreimal Kindergeburtstag organisiert und gefeiert, fünf Bewerbungen geschrieben, zwei Jobs abgesagt, ein Job angenommen (am Montag geht’s los). Heute Morgen war ich mit Mips im Krankenhaus zum Nierenultraschall. Der Pumuckelweg stresst mich auch nicht mehr so wie beim ersten Mal. Unser Krankenhausbesuch ist Routine. «Alles in bester Ordnung», sagte der Doktor. Ich bin froh, weil’s genau das ist, was ich hören will. Ich trage zum ersten Mal Handschuhe. Die grauen, ledernen vom Flohmarkt. Der Herbst ist in seiner vollen Blüte. Ich finde, das darf man schon sagen, weil die bunten Blätter ja auch irgendwie wie Blüten aussehen, wenn sie in allen Farben leuchten. Im Volkspark sehe ich rote Rosen. Ich kaufe mir auf dem Nachhauseweg drei rote Gladiolen für je einen Euro. Die weissen wären 60 Cent pro Stück gewesen, aber rot gefällt mir besser, drum gebe ich 1.20 mehr aus. Die Sonne scheint und Mips schläft im Kinderwagen tief und fest. Sie darf heute zu Hause bleiben. Um 15 Uhr holen wir Maus ab. Sie sagte mir heute Morgen, dass sie es zugibt. Sie hat Mips lieb. Das ist neu. Zuvor hatten wir fast jeden Tag ein Eifersuchtsdrama mit Schreien, Dinger Herumschmeissen und Ausrasten.

Vielleicht hat der dm Lieferservice dabei geholfen. Der ist neu und ich habe ihn natürlich sofort genutzt. Unsere Lieferung kam abends um neun (!!!???) per Kurier mit dreimal Sturmklingeln. Ich dachte, mein Mann hätte sich ausgeschlossen. Lange Rede kurzer Sinn: Die Lieferung kam in einer enormen Pappschachtel. Maus hatte die dann für sich annektiert und sie zur Schmollkiste ernannt. Wenn jetzt was ist, setzt sie sich in die Kiste und tobt wie verrückt. Ich bin total glücklich über diesen Einfall und dass die Wutzone nun eingegrenzt ist. Die letzten Wochen habe ich mich, so weit es ging, sämtlichen sozialen Kontakten und Abenden mit meinem Mann entzogen. Ich wollte dieses Ding endlich soweit haben, dass ich online gehen kann. Die Tastatur klebt, gegessen habe ich nur im Stehen oder noch halb tippend, meine Vorsätze, keine Süssigkeiten mehr zu essen sind zunichte, ich habe nur noch lange Socken getragen, aus Angst, man könnte meine langen Haare an den Beinen sehen, weil ich keine Zeit hatte, sie zu rasieren, im Fitness halbierte ich meine Präsenzzeit und auch sonst war ich mit meinen Gedanken stets beim Blog. Meinem Blog. Meinem dritten Kind. Naja, fast.

Meine Freundin A. hat das Logo entworfen und ich finde, es passt hervorragend. Ein grosser Dank an dieser Stelle. Wenn ich schon beim Danken bin: Ein fettes Merci geht auch an Steffi vom Hey Pretty Beauty Blog. Du hast mir gesagt, ich soll mich doch nicht so wahnsinnig ernst nehmen und es einfach machen! Zudem hast Du mir noch den einen oder anderen Blog-Tipp verraten und mich mental aufgebaut, wenn ich am Zweifeln war. Das ist Gold wert! Und natürlich geht auch ein grosses Danke an meinen geliebten Ehemann. Dank ihm habe ich ein so tolles Porträt, welches er noch um Mitternacht nach zwei Folgen Game of Thrones und Studioaufbau in unserem Schlafzimmer geschossen hat. Inspiriert waren wir übrigens von Wes Andersons Film Moonrise Kingdom (sehr empfehlenswert). Und Merci auch an Maus und Mips. Ich habe euch auch unter der Woche Barbapapa durchgehen lassen, um so noch eine halbe Stunde für mich und den Blog zu erhaschen. (Maus weiss jetzt, wie man den DVD-Player bedient. Tja.) Ich widme euch das Lied von Tim Bendzko Nur noch kurz die Welt retten. Danke für eure Geduld!

Ja und jetzt. Auf die Plätze fertig los. Prosecco-Korken knallen, der Vorhang geht auf und sie tritt auf die Bühne. Das Scheinwerferlicht blendet sie, sie blinzelt … Filmriss. In Realität sitze ich mit ungewaschenen Haaren und im Converse-Sportanzug meines Mannes, den ich mir tagsüber heimlich anziehe, weil der so toll nach Mann riecht, am Küchentisch. Zu meiner linken der rote Staubsauger und rechts eine angefressene Schokolade mit einem Kakaogehalt von 85 %. Macht nichts. Es muss kein filmreifer Auftritt werden. Es darf unperfekt sein, denn ich bin ja auch kein Profi. Ich betrete soeben Neuland. Online ahoi.

[claudiajucker.com]

 
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