Für Hamudi
Aus: Stefan Zimmermann, Vom Morge bis am Aabe
Als ich im Patiententransport angefangen habe, ist mir Hamudi gleich als einer der Lebendigsten aufgefallen. So wie er den Aufenthaltsraum betrat, konnte man sicher sein, dass Leben in die Bude kommen würde. Er war keiner, der sich still in eine Ecke verzog. Wenn er guter Laune war, wurde viel gelacht in seiner Nähe. Wenn nicht (was selten vorkam), konnte es auch mal Ärger geben, weil er dann emotional wurde. Man erfuhr jedenfalls immer gleich, wie es ihm ging.
„Tschau, i bi Hamudi“, ging er gleich mit ausgestrecktem Arm auf jeden zu, der neu bei uns angefangen hatte. Auch den Patienten gegenüber hat er sich nie mit seinem Nachnamen, sondern immer als „Hamudi“ vorgestellt. Mit seinem gebrochenen Schweizerdeutsch ist er immer gut angekommen. Hamudi war sprachlich sehr begabt. Von Arabisch über Englisch, Französisch und Italienisch fand er zu einer Mischung aus Deutsch und Schweizerdeutsch, das allein schon seinen Charme versprühte. So war er auch der Einzige, der sowohl Ärzte wie auch Professoren duzen konnte, ohne dass diese dabei verärgert wurden. „Salue toi. Chasch mir hurti durelaa?“, griff er beispielsweise einem Professor freundlich lächelnd an die Schulter, wenn dieser ihm bei seinem Vortrag vor Ärzten im Korridor gerade im Wege stand.
„Ehrläch, mänggisch …“, in breitestem Berndeutsch ausgesprochen, wurde zu seinem geflügelten Kommentar zu allem, mit dem er nicht einverstanden war.
Aus seiner Jugendzeit in Algerien hat er mir einmal erzählt, dass sein Vater bei politischen Kämpfen umgebracht worden sei, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Er fühle sich in der Schweiz sehr wohl, auch wenn er natürlich innerlich entwurzelt sei.
Hamudi war immer sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Mit seinem gewellten, langen Haar wirkte er jünger, als er war. Aber es war vor allem seine herzliche Offenheit, die ihn im ganzen Spital bekannt machte. Wenn er mal sehr aufbrausend war, weil er sich ungerecht behandelt gefühlt hat, habe ich die Pause mit ihm zusammen bei einem Kaffee verbracht. Man musste ihm dann nur zuhören, bis er seine Anliegen alle vorgebracht hatte. Sofort wurde er dann wieder ruhig und verstand auch, dass man nicht auf alle eingehen konnte.
Dann fehlte Hamudi plötzlich wochenlang und als er dann im Bettenhochhaus stationiert wurde, erfuhren wir, dass er an einer Krebserkrankung litt. Hamudi durfte wieder nach Hause und zwischen seinen Therapieterminen hat er uns auch manchmal besucht. Ich bin damals davon ausgegangen, dass er wieder gesund würde. So, wie ja auch viele unserer Patienten wieder gesund werden.
Ausgerechnet bei einem seiner letzten Besuche ist mir ein unverzeihlicher Fehler passiert. Ich sass gerade vor dem Computer und sollte dem Chef eine Statistik erstellen, als Hamudi plötzlich vor mir stand. Wir begrüssten uns und ich erkundigte mich nach seiner Gesundheit. Er konnte nichts Konkretes sagen und wie er da vor mir stand, schien er mir wie eh und je. Ich habe leider darauf hingewiesen, dass ich gerade im Stress sei wegen der geforderten Statistik. Hamudi hat schnell verstanden und hat sich wortkarg abgewandt. Es hat mir sofort leid getan und ich nahm mir vor, ihn unbedingt nochmal abzufangen, bevor er das Gebäude verlassen würde. Ich stellte mich also vor den Eingang und rauchte auf ihn wartend gerade eine Zigarette, als er an mir vorbeistürmte und auf meinen Zuruf hin nur noch einmal von weitem zurückwinkte.
Einige Tage später warteten wir nach Feierabend im nahegelegenen Restaurant auf ihn. Brigit, die ihm in dieser Zeit am nächsten von uns stand, hatte mit ihm abgemacht, dass wir uns dort treffen könnten. Aber Hamudi kam nicht. Ein paar Wochen später ist er dann im Inselspital verstorben.
Ich war in dieser Zeit gerade in Deutschland auf einer Ferienreise. Deshalb konnte ich auch nicht an der anschliessenden Trauerfeier teilnehmen. Sie soll sehr bewegend gewesen sein. Da sie nachmittags vor der Inselkapelle stattgefunden hat, wurden sogar einige Röntgentermine für Patienten verschoben, damit möglichst viele Arbeitskollegen daran teilnehmen konnten.
Als Gruppenleiter wurde ich ein paar Tage später ins Büro gerufen, um die Ehefrau von Hamudi zu empfangen. Sie hat Arbeitsutensilien und Schlüssel von Hamudi mitgebracht. Seit diesem Tag weiss ich, wie traurig es ist, wenn man gemeinsam mit Verbliebenen den Spind eines verstorbenen Arbeitskollegen leert. Beim Besuch im Aufenthaltsraum standen wir dann vor einem grossen Porträt von Hamudi, das wir in der Zwischenzeit dort aufgehängt haben. Dabei sind uns beiden die Augen übergelaufen.
Immerhin hat sie sich sehr darüber gefreut, dass ich ihr auch ein Couvert mit einer grossen gesammelten Summe übergeben konnte. Sie hat versprochen, dass sie es unserem Wunsch entsprechend für eine kleine Reise mit den beiden Kindern verbrauchen würde.
Wenn ich heute an Hamudi denke, ist es manchmal als würde er neben mir stehen. „Ehrläch, mänggisch …“, höre ich ihn dann in breitestem Berndeutsch sagen.