Sepiaknochen

Aus: Barbara Hodel, Blauton

Seraphina lauschte in sich hinein: Dort war es ruhig und friedlich. Sie fühlte die Bettdecke aus merzerisierter Baumwolle weich auf ihrer nackten Haut. Sie war noch fein eingekuschelt, legte sich nun aber streckend und reckend frei. Das Meer rauschte fern, blasse Sonnenstrahlen drängten durch das Bambusrollo vor dem Fenster und Seraphina dankte in Gedanken den Göttern oder einer anderen zuständigen Instanz für diese wunderbare Gelegenheit, die sich ihr geboten hatte.

Sie rollte sich auf die Seite und erhob sich von ihrer Matratze. Das Strandhäuschen wies bloss einen einzigen Raum auf, die Küchenzeile war in einer Ecke untergebracht. Seraphina schlüpfte in ihre tintenblauen, weiten Leinenhosen und warf sich ein türkisfarbenes Shirt über. Wie jeden Morgen bereitete sie sich einen Kräutertee zu und setzte sich an den Holztisch vor dem Fenster mit Blick auf den Strand, um ihre Morgenseiten zu schreiben. Dieses Ritual gab Seraphina die nötige Zentriertheit, um ihrer Arbeit als Lebensberaterin und Coach nachzugehen.

Freunde von ihr waren mit einer Bitte an sie gelangt: Ob Seraphina nicht bereit wäre, vierzehn Tage in der Praxisgemeinschaft mit zu arbeiten? Dafür bekam sie keinen Lohn, durfte aber im Strandhäuschen wohnen. So konnte sie dem ersten Schnee entfliehen, der in ihrer deutlich nördlicheren gelegenen Heimatstadt bereits zu erwarten war. Seraphinas Talent, klärend einzuwirken und die Klienten zum Herzhören zu führen, durfte sie nun hier der Gemeinschaft zufliessen lassen. Kombiniert mit energetischem Heilen hatte Seraphina damit ihre Berufung gefunden. Gerne hatte sie das Angebot angenommen.

Seraphina legte den Füller hin und packte ihren kleinen Aquarellkasten und das Skizzenbuch in den Rucksack. Barfuss wie sie war, stieg sie die wenigen Holzstufen von ihrem temporären Zuhause hinab, fühlte die kühlen Sandkörner unter ihren Füssen und setzte sich in Bewegung Richtung Meer. Sie suchte ein stilles Plätzchen in der Bucht, um ein kleinformatiges Bild ihres aktuellen Innenlebens ans Licht zu bringen. Es war noch frisch, die Luft kühl und rein. Seraphina stapfte zügig durch den Sand.

Sie steuerte auf einen grossen Stein zu, der perfekte Platz, um nach innen zu schauen. Bunte Farben flossen bald auf das saugfähige Aquarellpapier, und Seraphinas Gefühle nahmen im Aussen Gestalt an. Zwischendurch liess sie den Blick bis zum Horizont schweifen. Schade, das Wasser war bereits zu kühl zum Schwimmen. Doch Seraphina war zufrieden. Sich künstlerisch auszudrücken, tat ihr jedes Mal gut.

Zurück in ihrem Häuschen stellte sie fest, dass sie sich ausserordentlich wohl fühlte in dieser gemütlichen Umgebung. Der holzgetäfelte Raum mit dem Riemenboden hatte eine warme Ausstrahlung, die durch die offene Feuerstelle noch verstärkt wurde. Der altmodische Schaukelstuhl stand vor einem auf dem Boden ausgelegten Bärenfell und lud zu Mussestunden ein. Wie dieses Fell wohl in die Strandhütte gekommen sein mochte? Es roch leicht nach kaltem Rauch, salziger Luft und Holz. Bunte Flickenteppiche und die Patchwork-Kissen auf dem Bett an der Wand gaben lebendige Akzente.

Auf einmal sah Seraphina eine schmale und unscheinbare Türe neben der Küchenzeile. Die war ihr bisher noch gar nicht aufgefallen, sie wusste nicht, was sich dahinter verbarg. Sie öffnete den Zugang und spähte interessiert in den halbdunklen Raum. Erst konnte sie nicht viel erkennen, doch dann ertastete sie den Schalter und ein mattes Licht glomm auf. Sie sah einen Abstellraum mit einer Treppe, die in den Keller führte. Seraphinas Neugierde war geweckt. Sie schlüpfte in den Raum und folgte der Holzstiege nach unten. Die staubigen Stufen knarrten unter ihrem Gewicht, die Luft war etwas feucht und roch erdig. Dort angekommen sah sie, dass weitere Stufen in die Tiefe führten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses kleine Häuschen derart unterkellert war. Und doch … noch eine Treppe führte nach unten. Und noch eine. Eine weitere folgte. Seraphina stieg all die Tritte nach unten, es ging immer weiter und weiter. Sie musste sich nun tief im Innern der Erde befinden. Kein natürlicher Lichtstrahl drang hier herunter. Eine fahle Funzel gab einen gelblichen Schimmer von sich, der gerade genug Helligkeit gab, um das Nötigste zu erkennen. Als es nicht mehr weiterging, entdeckte Seraphina eine massive Eichentüre vor sich. Sie schien uralt, war mit Schrammen versehen und trug eindeutige Zeichen der Zeit. Ein schwarzer Eisenring war in der Mitte der Türe eingelassen. Die wissensdurstige Seraphina wollte liebend gerne diese Türe öffnen. Doch die ängstliche Seraphina spürte ihr Herz so stark klopfen, dass ihr ganzer Busen im Takt wippte. Sie hatte das Gefühl, gleich ein Geheimnis zu lüften. So blieb sie minutenlang stehen und rang mit sich. Es war totenstill, ihr wurde bewusst, dass sie sich viele Meter unter dem Boden befand, niemand wusste, wo sie war und dass sie bereits in der Praxis erwartet wurde.

Da gab sie sich einen Ruck. Mutig ergriff sie den kühlen Eisenring und drehte ihn. Erstaunlicherweise ging das leichter als gedacht. Das schwere Eichenblatt wich zurück und gab den Blick auf einen Raum frei. Seraphinas Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Langsam erkannte sie einen ungefähr fünfzehn Quadratmeter grossen Gewölbekeller mit Wänden aus Mauerwerk. Sie setzte ihre baren Füsse auf den Naturboden und trat vorsichtig ein. In der Mitte des Raumes stand ein dunkler, klobiger Klostertisch. Dort zog es sie hin. Sie fühlte einen Sog von einem hellen Fleck auf der Oberseite des Tisches ausgehen und brachte die kurze Distanz zwischen Türe und Tafel mit schnellen Schritten hinter sich. Auf der dunklen Holzfläche lag ein schneeweisser Sepiaknochen, der wie ein inverser Scherenschnitt im Halbdunkeln leuchtete. Daneben befand sich ein zusammengefalteter, kleiner Zettel. Offensichtlich hatte sie eine Botschaft für sich gefunden.

Sie nahm das vergilbte Papier an sich und faltete es auf. Da fiel ihr ein kleines, altmodisches Schlüsselchen in die Handfläche. Das Blatt gab seine Mitteilung in einem einzigen klaren Wort preis: «Ja». Daneben glänzte ein rotes Herz. Seraphina verstand. Eine warme Welle des Glücks tanzte durch ihren Körper. Das Wunder der Liebe war in ihr Leben getreten. Sie durfte vertrauen und wusste, sie wurde geführt.

 
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