Die Nachbarin

Aus: Margret Ammann, Luftwurzeln

Am späten Nachmittag durfte das Mädchen rüberlaufen zur Nachbarin. Sie kündigte es durch einen Ruf durchs Haus an und entschwand durch das Straßentor. Bei der Nachbarin klingelte sie kurz und ging ohne weiteres Zögern auf das Haus zu. Dona Ondina erwartete sie und die beiden setzten sich an den langen Tisch im Esszimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, das ganze Haus roch alt, die schweren dunklen Möbel schluckten jedes Geräusch. Es war sehr still in dem Haus. Das kümmerte das Mädchen überhaupt nicht. Denn es war so ganz anders als zu Hause.

Seine Aufmerksamkeit lag ganz auf dem Schrank, in dem, hinter fein geklöppelten Vorhängen, Süßigkeiten verwahrt wurden, in kleinen Schälchen behutsam abgedeckt. Die Nachbarin öffnete das Schränkchen und griff nach einem der Schälchen, deckte es ab und stellte es auf den Tisch. Ganz vorsichtig griff das Mädchen nach einer der Süßigkeiten und verstummte für einen Moment. Es war eine Süße, wie sie es nicht kannte.

Zu Hause gab es meistens Fruchtsalat als Nachtisch. Und höchstens zum Geburtstag etwas Besonderes. Die Kinder durften sich zum Geburtstag das Essen wünschen. Und den Nachtisch. Beim Essen waren sich die Kinder einig und wünschten sich Chnöpfli. Die Krönung für das Mädchen war jedoch Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Der Vater wünschte sich immer Karamellpudding.

Bei Dona Ondina durfte sie ganz andere Köstlichkeiten kennenlernen. Und im Sommer gab es eine kalte und im Winter eine heiße Schokolade dazu.

Das Mädchen saß gern mit der Nachbarin zusammen, plapperte munter drauflos und musterte verstohlen die so ganz andere Wohnungseinrichtung.

Manchmal verschwand die Nachbarin im Haus, dann stand das Kind auf und schaute sich genauer um. Einmal klingelte das Telefon, und die Nachbarin wurde in ein längeres Gespräch verwickelt.

Das Kind öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es musste einen Moment warten, bis sich die Augen an die noch größere Düsterheit hier gewöhnt hatten. Ein abgedecktes Sofa, zwei Sessel, und da meinte sie ein Gespenst zu sehen. Auf einem Stuhl an der Wand saß eine Frau ganz in Weiß gekleidet, wie eine Braut. Völlig regungslos, die Augen im Nirgendwo verloren.

Sie schien das Kind nicht zu bemerken, das sich ihr langsam und leise näherte. Das Kind blieb gebannt vor der Frau stehen. Das Gesicht der Frau war fahl und eingefallen, es passte so gar nicht zu einer Braut. Die Hände lagen eigenartig verkrampft in ihrem Schoß.

Das Kind spürte, dass Dona Ondina ihr gefolgt war und hinter ihr stand. Auch sie war ganz still.

«Wer ist das?», fragte das Kind leise. «Meine kleine Schwester», antwortete Dona Ondina ruhig. «Ihr Bräutigam hat sie am Tag der Hochzeit verlassen. Alle warteten schon in der Kirche. Die Kirche war ganz mit weißen Lilien geschmückt. Ich war bei ihr und fuhr mit ihr zur Kirche, wo unser Vater sie zum Altar begleiten sollte. Aber der Bräutigam kam nicht. Wir haben gewartet, uns Sorgen gemacht und ahnten doch, dass er nicht kommen würde. Er kam tatsächlich nicht, und wir haben auch nie wieder etwas von ihm gehört. Meine kleine Schwester ist an diesem Tag verstummt. Sie ist sich sicher, dass er doch noch kommt und wartet auf ihn. Sie wartet seit vielen Jahren. Ich habe unserer Mutter am Sterbebett versprochen, dass ich immer für sie da sein würde.»

Dona Ondina lächelte leicht, nahm das Kind an der Hand und ging mit ihm wieder ins Esszimmer.

«Unsere Mutter war tief erschüttert und ist auch bald darauf krank geworden. Der Vater ist kurz nach der Hochzeit, die nicht stattgefunden hat, gestorben. Er war aber schon davor krank gewesen. Ich habe dann meine Mutter einige Jahr gepflegt bis zu ihrem Tod. Und jetzt bin ich allein mit meiner Schwester und bin selber auch schon sehr alt.»

Das Mädchen behielt ihre Besuche bei. Dona Ondina konnte so wunderbar zuhören und zeigte ihr nach und nach auch die ganze Aussteuer der Schwester. Fein gestickte Tischwäsche aus Frankreich, schönes Porzellan mit einem filigranen Rosenmuster, Handtücher mit kunstvollen Initialen.

Am Ende des Besuchs wurde alles wieder vorsichtig in einen dunklen Holzschrank verstaut.

 
coverMargretAmman.jpg
 
Zurück
Zurück

Sepiaknochen

Weiter
Weiter

’s isch ned eso schlimm & Gott hat Humor