Schicksalsjahr

Aus: Klaus Lienert, Jugend und Freundschaft

Das Jahr 1964 wurde zum Schicksalsjahr für mich und meine Familie.

Im Januar begann in Basel die Offiziersschule für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker und dauerte vier Wochen. Danach wurde ich zum Abverdienen des Leutnantgrades nach Winterthur aufgeboten, zu den Militärradfahrern oder «Redlibuben». Ich war täglich allein in einem offenen Jeep unterwegs, begleitete die Truppe, machte abends Krankenvisite und war dabei, wenn scharfe Handgranaten geworfen wurden.

Es war das Jahr der Schweizer Landesausstellung «Expo» in Lausanne, und anlässlich des «Tages der Armee» hatte ich Gelegenheit, sie zu besuchen und an einem Defilee teilzunehmen. Es war eine denkwürdige, moderne und vielfältige Schau der aktuellen Schweiz und Jean Tinguelys lustig-nachdenkliche «Heureka»-Maschine stand an prominenter Stelle beim Eingang und erfreute jedermann. Im Urlaub am Samstag erzählte ich meinem Vater davon und auch von den musikalischen Ideen. Die Schweizer Komponisten Rolf Liebermann und Heinrich Sutermeister hatten neue anregende Werke beigesteuert. Und da war ja noch der Schweizer Jodlertag, der an einem Wochenende Ende Mai vorgesehen war und wo mein Vater den Schlusschor mit seiner «Schweizer Jodlerhymne» hätte dirigieren sollen.

Nach Lausanne Rückkehr nach Winterthur, wo mein Abverdienen noch bis Ende Mai weiter ging. Und mitten in diesem Dienst kam am 16. April die Nachricht aus Luzern, dass mein Vater einen schweren Autounfall erlitten habe und im Kantonsspital hospitalisiert sei.

Mein Vater war zeitlebens ein Fussgänger gewesen. Er legte seinen Arbeitsweg täglich viermal zu Fuss zurück und fühlte sich stets gesund und kräftig. Nun, mit sechzig Jahren, hatte er noch ein Auto gekauft, einen kleinen roten Fiat-850, und die Fahrprüfung abgelegt. Als im April meine Schwester Regula mit ihrem Schatz Hansjörg auf der Frutt, hoch oben über dem Melchtal, Ski fahren gegangen war, versprach er ihr stolz, sie dort oben auf der Stöckalp abholen zu wollen.

Es muss ein wundervoller sonniger Frühlingstag gewesen sein, am 15. April 1964, mit Osterglocken, Flieder, ersten Tulpen in den Gärten und Leber- und erste Schlüsselblümchen auf den Matten. Mein Vater sei bester Laune gewesen und voller Stolz, als er dem Alpnachersee entlang gegen Sarnen und dann hinauf nach Kerns fuhr – in seinem eigenen Wagen – und seine Tochter vom Skifahren auf der Frutt nach Hause holen wollte, verabredet bei der Talstation der Luftseilbahn auf der Stöckalp.

Meine Schwester und ihr Freund warteten mit ihren Skiern auf ihn. Doch er kam und kam nicht, so etwas Langweiliges, bis sie die Geduld verloren und ins wartende Postauto einstiegen.

Und da, auf der Fahrt die steile waldige ungemütliche Strecke nach Kerns hinunter, sahen sie plötzlich, auf der Gegenseite der Schlucht, tief unten ein kleines rotes Auto im Flüsschen, mit offener Türe! Ein Unglück musste geschehen sein. In Kerns wurde die Polizei avisiert, welche sofort ausrückte und unseren Vater fand, am Boden den waldigen Abhang hinaufkraxelnd, ihn barg und flugs ins Kantonsspital Luzern brachte.

Als ich am nächsten Tag in den Urlaub kam, besuchten wir den Vater im Spital und fanden ihn mit mehreren Schürf- und Prellwunden am ganzen Körper und einer Infusionsflasche am linken Arm. Er hatte Glück gehabt, indem er, vor dem Sturz in den Bach, durch die geöffnete Wagentür hinaus auf den steinigen Boden geschleudert worden war. Aber er war mitgenommen, leidend, leise sprechend und müde.

Medizinisch gesehen war es verrückt, dass man erst nach vierzehn Tagen seine von ihm beklagten Rückenschmerzen ernst nahm, ihn röntgte und endlich eine Wirbelfraktur fand, die ein Gipsbett für den alten Mann erforderte. So kam es, dass er vier Wochen lang still im Bett liegen musste. Da ich immer noch im Militär war, konnte ich ihn nur an den Wochenenden besuchen, begleiten, ihn trösten, mit ihm sprechen oder schweigend einfach da sein, neben ihm und für ihn. Und da geschah es, dass er ein- oder zweimal, meist nachts im Dunkel, dramatische grosse Gefühlsausbrüche hatte. Es brach aus ihm heraus, was er alles noch vorhatte. Er wollte noch eine Oper schreiben; es schwebte ihm eine Oper über Albert Einstein vor, er war am Sammeln von Textmaterial und voller musikalischen Ideen. Einstein war für ihn die ganz grosse moralische Autorität, der Antikriegsaktivist, der den Mut hatte, vor der Atombombe zu warnen, die er selbst zu entwickeln geholfen hatte. Mein Vater fand den Kalten Krieg etwas Unwürdiges, Dummes, Verzweifeltes, das nur den Waffenfabrikanten nütze, er war ein Humanist und Pazifist von innen her.

Nun, sechs Wochen nach dem Unfall, hätte er am Dienstag, den 26. Mai, das Spital verlassen und heimkehren dürfen. Wir waren am Vorbereiten seiner Heimkehr, als uns zwei Tage vorher, am Sonntagmorgen, den 24. Mai, um sechs Uhr, beim ersten Sonnenschein das Telefon weckte und uns vom Spital mitgeteilt wurde, dass der Patient kurz vorher plötzlich verstorben sei. «Wie bitte?»

«Ja, es tut uns leid, es muss sich um eine fulminante, tödliche Lungenembolie gehandelt haben, die uns Ärzten keine Chance zur Hilfe gelassen hat.» Da war es, das endgültige, unabänderliche, anscheinend unvorhersehbare und jähe Ende des Lebens meines geliebten Vaters.

Wir waren entsetzt, die ganze Familie, und fragten uns, wie das geschehen konnte. Auch befreundete Ärzte aus der Nachbarschaft konnten es nicht verstehen und ermahnten mich, eine Autopsie zu verlangen. Das war nicht ganz einfach, aber ich vernahm, dass der Leichnam bereits in der Abdankungshalle des Friedhofs «Friedental» aufgebahrt sei und dass ich ihn selber in die Pathologie bringen solle. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mich, noch in Uniform (ich war ja offiziell im Dienst) auf den Weg zu machen und meinen verstorbenen Vater im Friedhof abzuholen. Alle waren freundlich zu mir, als ich den vierrädrigen Handwagen, auf welchem der Sarg lag, über den Hügel zog, welcher Spital und Friedental trennt. Aber welch ein trauriger Aufzug für mich! Ich fühlte mich so allein gelassen, bedrückt und traurig, und nur das Gefühl, das Richtige zu tun, tröstete mich bei der mühevollen Wanderung mit meinem toten Vater bis zur pathologischen Abteilung des Spitals.

Dort gab ich Gefährt und traurige Ladung ab und ging nach Hause. Tags darauf kam telefonisch der Bescheid, dass eine grosse Lungenembolie, die ihn augenblicklich getötet haben muss, die Todesursache meines Vaters gewesen sei. Die Diagnose der Chirurgen war also richtig und nach Besprechung mit den Nachbarsärzten suchte ich den Chefarzt im Spital auf. Dieser bedauerte den Vorgang sehr und gab zu, dass sie es unterlassen oder vergessen hatten, dem einundsechzigjährigen Patienten während seiner Immobilisierung im Gipsbett das Blut zu verdünnen. Ja, das war die traurige Wahrheit: Mein Vater war wegen eines medizinischen Kunstfehlers ums Leben gekommen.

Jetzt kam die Entscheidung auf meine Familie zu, ob wir die Spitalärzte zur Verantwortung ziehen und vor Gericht klagen sollten oder nicht. Unsere Nachbarn wollten uns dabei unterstützen, aber wir sagten Nein: Unser Vater war nicht mehr da, und was nützten uns die paar Tausend Franken «Schadenersatz», wenn er nicht mehr zum Leben zu erwecken war? Eine sehr traurige Geschichte, besonders auch für meine Mutter. Sie wühlte uns alle sehr auf.

Nun galt es, die Beerdigung vorzubereiten, und die ganze Familie inklusive Onkeln und Tanten halfen uns dabei. In den Abendnachrichten des Schweizer Radios Beromünster wurde das Ableben unseres Vaters gemeldet und seine Verdienste um das Jodelwesen gewürdigt. Die Schuldirektion, das Stadtpräsidium, der Schweizerische Jodlerverband, die Musikpädagogen von Luzern und die Tageszeitungen meldeten sich und baten um Lebenslauf und Fotos.

Da kam der Tag der Beerdigung, und wir machten uns mit dem Taxi auf den Weg zum Friedhof. Schon von weitem, bei der St. Karlskirche, sahen wir, wie sich die Autos stauten und viele Menschen in Trauerkleidung oder in Schweizer Trachten zu Fuss nach dem Friedental streb- ten. Die Polizei regelte den Verkehr und wies uns direkt zum Eingangstor. So hatten wir uns das nicht vorgestellt: so viele Leute, die Polizei sprach von über eintausend. Mit dem Pfarrer, Vikaren und Ministranten, Kreuz tragend und Weihrauch schwingend, folgte der Leichenwa- gen zum ausgehobenen Grab, nicht weit von der Pforte. Und wir hintendrein als Erste des langen Umzuges.

Ich kann die ganze Zeremonie nicht in Worte fassen, ich erinnere mich nur, wie, nach den Reden von gewichtigen Leuten, von ferne her ein wunderbarer Klang ertönte. Es war wie ein Choral von Posaunen, der in ruhigem Gang sich vom Hügel, wo das Krematorium steht, über das ganze Friedhofareal ausbreitete. Aber es waren nicht jubilierende Blechbläser, es waren drei Alphornbläser, die sich da hinten aufgestellt hatten mit ihren hölzernen Ungetümen und die ihrem Max Lienert die letzte Ehre gaben und ganz vielen Trauernden die Tränen in die Augen trieben. Es war erhebend!

Soll ich noch antönen, dass dann das Grabsegnen, das Blumen-ins-Grab-Werfen, das Kondolieren begann, und dass ich (immer noch in Leutnantsuniform) durch mein geduldiges Dastehen meine weinende Mutter und meine Schwestern beschirmte und beschützte? Ja, so war es und es dauerte und dauerte, bis die ganzen trauernden Menschenkolonnen meiner Mutter und uns kondoliert hatten.

Eine Stunde später, im grossen Restaurant in der Stadt, erinnere ich mich, wie Familie, Angehörige und nahe Freunde im kleinen und die vielen Jodlerinnen und Jodler nebenan im ganz grossen Saal assen und tranken und parlierten und die Stimmung feierlich war und sich die Chöre einzeln aufstellten, um Max Lienerts Lieder zu seinen Ehren zu singen. Auch das Lied «Sängertreu», das sie schon am Grab gesungen, erklang nochmals und das «Schwizervolk» zum Abschluss. Zwischendurch bat man mich um ein paar Worte zum Anlass und ich weiss nur noch, dass ich sagte, dass ich am offenen Grab und während des Alphornchorals mit meinem Vater im Gespräch war und dass wir beide lächeln mussten ob der schönen Musik, den Gesängen, den Reden und dem Sichherbemühen von so vielen Leuten, die zu seinen Ehren gekommen waren. Die Stimmung im Saal liess mich erkennen, dass die Menschen die Anspielung an das feine Lächeln meines Vaters verstanden hatten, mit dem er jeweils in seinen Konzerten am Schluss seinen Sängern für Ihre Leistung gedankt hatte.

Am darauf folgenden Wochenende war in Lausanne der Expo-Jodlertag. Wir erfuhren, dass beim Singen des Schlusschores «Schwizervolk» – mit über tausend Stimmen, wie man es an Jodlerfesten gewohnt war – kein Auge im Saal trocken geblieben sei. Ein Mann mit grosser Ausstrahlung.

 
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