Ein neues Land

Aus: Telsche Keese, Glück gehabt

Ich war jung und unvoreingenommen, neugierig und gewillt, alles zu tun, um mich nach den Jahren des Heranwachsens in Deutschland in meine neue Schweizer Wirklichkeit einzufügen. Ich kam aus dem flachen Norden, hatte Berge zum ersten Mal mit 20 gesehen. In Zürich gehörten sie zum Stadtbild, es erschien mir wie ein Wunder. Ich konnte Radfahren, knapp Skifahren, und heute sage ich: Hier ist meine zweite Heimat.“ Ich brauchte lange Jahre dazu, es spielte sich zwischen 1966 und 2020 ab. Es ist meine Integrationsgeschichte. Wie ich es geschafft habe, mich nicht mehr fremd zu fühlen, im Gegenteil zu behaupten, hier sei jetzt mein Zuhause, das versuche ich nachzuvollziehen und darzustellen.

Momentaufnahme: Ich halte meinen inneren Film kurz an: Achtung, Grossaufnahme: Wir sehen in ein vergnügtes Gesicht eines 29-jährigen Mädchens, wie sie im November 1966, irgendwo an der deutschschweizerischen Grenze mit Schwung die Tür zu einer Baracke hinter sich zuschlägt. An der Tür in sauberen Lettern ein Hinweisschild: „Sanitarische Untersuchung“, auf ihren Papieren ein Vermerk: „Einreise zwecks Eheschliessung”. Die Deutsche verlobt mit einem Deutschen, der an der ETH forscht, wohnt artig erst einmal für sich in Untermiete: Zürich, Pestalozzistrasse. Es ist die Zeit, als die NZZ noch dreimal täglich eine Ausgabe produziert. Sie fühlt sich willkommen: Im Telegramm zu ihrer Hochzeit gratulieren ihre Vermieter: „Auf zwei Bürger mehr freut sich Zürich sehr.“ Ihr Angetrauter kann sein abgeschlossenes Studium bei der Wohnungssuche als Ausweis für Seriosität in die Waagschale werfen, sie muss sich erst noch beweisen und will sich bewähren. Es ist ein neues, wunderbares Gefühl, zu beginnen und dem blankgefegten Himmel das Gesicht entgegenzustrecken, sich unverhofft selbstsicher zu erleben und neu zu wagen.

Ein echter Anfang, frisch und neu gedacht, voller Hoffnung für alles Zukünftige. Klappe, die Erste. Ende. Ich war aber nicht die Erste, die merkte, dass hier alles etwas anders und doch ähnlich war, wie ich es kannte. Mir wurde rasch bewusst, dass hier die Uhren anders tickten, ich brauchte ein „neues Kleid“, nicht gerade sehr bunt, aber doch wie aus dem Heimatwerk, schlicht und aus festem Stoff, vielleicht mit schlichten Blümchen drauf, auffallen dürfte es nicht. Alles Knallige könnte stören, sollte eher bekannte, kulturelle Signale aussenden und damit Wohlwollen hervorrufen, wenn man mir begegnete.

Ich hielt es für weibliche Klugheit, die eigenen Emotionen zu zügeln. Als Ausländerin musste ich täglich üben, gelassen zu bleiben. Verglichen mit allen anderen Sprachen war meine Muttersprache in Zürich immer von Vorteil, aber „erkennungsdienstlich“ nicht unbedingt. Ich bemerkte schnell – nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges –, dass immer ein böser Geist auf meiner Schulter hockte, sobald ich meinen Mund auftat. Er blieb hartnäckig sitzen, lockte Erinnerungen aus schlimmsten Kriegsszenarien bei Mitmenschen hervor, die ich spürte und verstand, die mir aber unangenehm waren. Ich stellte mich den Tatsachen und tat es mit gleicher Selbstverständlichkeit wie Jahre zuvor in London im Haushalt orthodoxer Juden.

Das Herz der Stadt Zürich war damals so übersichtlich wie heute, genauso unbegreiflich arglos und bescheiden geduckt die Gebäude, so lauschig geordnet an einem See. Hinter den schlichten Fassaden gewichtiger Geschäftshäuser ging es schon immer sehr kaufmännisch zur Sache. Die Bürger dieser Stadt verstehen es, mit viel Understatement wie Zwerge zu erscheinen. Ich wusste deshalb in einer Schlussprüfung nicht, was der Professor verschmitzt von mir wissen wollte. Er fragte mich, was die „Zwerge hinter den Bergen“ im Zusammenhang mit Zürich bedeuten könnten. Die guten Geister um Schneewittchen? Weit gefehlt: „Fleissige Goldgräber“, meinte er.

Ich verband eher die neuen Fremdarbeiter mit Geld, wie sie ihre tauverschnürten Koffer auf dem Perron des Hauptbahnhofes um sich auftürmten, bevor sie das Ganze durch die offenen Zugfenster hievten. Nach langen Arbeitswochen wollten die Saisonniers zurück in den sonnigen Süden zu ihren Lieben. Sie wussten, was es heisst, dazugekommen zu sein. Man rief ihnen unfreundlich „Tschingge“ nach, denn sie waren die ersten Fremdarbeiter in dieser Nachkriegszeit. Italienisch ist Landessprache, Deutsch genauso, man wird verstanden, ganz natürlich, aber dennoch lösen eine Sprachmelodie oder gestikulierende Körpersprache schnell eine Flut von Reaktionen bei Eingesessenen aus. Das muss der Fremdling wissen. Ungewohntes löst leicht Distanz und Skepsis aus, denn alle kennen ihre Muttersprache genau, und Einheimische beobachten scharf und hellhörig. Das ging auch uns so.

Integration ist ein stolzes Wort, ich hatte sie zum Ziel, aber noch stand sie mir bevor. Fremdlinge möchten möglichst rasch dazugehören, ich auch. Wer neu ist, bemerkt zunächst nicht viel und redet in seinem Idiom unbekümmert daher. Gesprochene Sprache besonders im Dialekt ist für die ungewohnten Ohren ein Rauschen aus Lauten wie von einem Wasserfall. Die erste Hürde ist die Begrüssung. Ich streckte allen Leuten meine Hand entgegen, aber fast keiner schlug ein. Dagegen waren mir die drei Küsschen viel zu nah, dazu konnte ich mich nie richtig entschliessen, schliesslich kannte ich es nicht einmal von meiner Mutter. Sprachlich tauschte ich für mich schon bald erste Worte aus: Stadtteil gegen „Quartier“, „Ochsner-Kübel“ gegen Mülleimer, „Grüezi“ gegen lässig ausgestossenes „Tach“, und übrigens, die Langstrasse war damals auch schon keine gute Adresse.

Das Zürich der 60er-Jahre mit Pastorinis Wunderwelten an Holzspielzeug und feinsten Kleidchen für die Puppenwelt, Café Kranzler an der Bahnhofstrasse, wo wohlhabende Damen in Bally-Schuhen ausruhten: eine gediegene Stadt. Neugierig sein, schauen, wie die Leute sich geben, wie sie miteinander umgehen, wie sie ihr Leben organisieren, ich lernte es wahrzunehmen und immer freundlich zu lächeln, immer sehr freundlich zu sein. Sollte Deutsch ein Hindernis sein, versuchte ich es auf Französisch. Jemand hatte es mir augenzwinkernd geraten; es löse wundersame Beflissenheit bei der Bedienung aus. Ich probierte es im Modehaus Grieder, man öffnete mir eilfertig die Tür: „Volontiers, madame, au revoir … bonne journée, madame!“ Die Zeit schien mir hier stehengeblieben zu sein, es gab die ersten Mövenpick-Restaurants, wo der Gast lässig an der Theke zuschauen konnte, wie die Korken aufgezogen wurden, die leckeren Snacks zusammengestellt wurden. Keine Gäbelchen und Buttermesserchen der 50er-Jahre-Esskultur, es war ganz neu, nur etwas zu „picken“, wie die Werbung mit den Möwen versprach. Ich ging immer die gleichen Wege, um alles zu geniessen, liebte die Angebote in englischer Herrenmode, die „Léonard“-Kleider an der Bahnhofstrasse in gewagter Farbzusammenstellung, jene Kofferkleider, die in einer Hand Platz hatten. Hätte ich das Geld gehabt, es hätte Hände voll Frankenscheine dafür gebraucht. Bei Meister-Silber parkte den lieben langen Tag der imposante weisse Mercedes des Inhabers dicht am Haus, und wenn ich mich einmal ins Marsano wagte, strömten mir betörende Blütendüfte aus fernen Naturparadiesen entgegen. Das i-Tüpfelchen an der Bahnhofstrasse war für mich ein dunkler Schokolade-Truffe, über die Theke gereicht von einer weiss behandschuhten Hand und einem wissenden Lächeln der Bedienung zu mir hinüber in bester Lage am Paradeplatz.

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