Bayreuther Festspiele
Aus: Johannes Amberger, Die Brandlers und ihre Zeit – Noch Zuhause
Meine Oma, Tante Inge und der Führer
Nach Hitlers Machtergreifung 1933 pilgerte die gesamte NS-Führung regelmäßig zu den jährlichen Aufführungen der Wagner-Opern in die oberfränkische Stadt Bayreuth. Der blonde Siegfried, die heldenhaften Frauen, die vielbeschworene Nibelungentreue – das Wagnersche Brimborium passte ja perfekt zur Nazi-Propaganda von den blonden und starken Deutschen, die furchtlos und kühn gegen den Rest der Welt kämpfen. Im Jahr 1938 war die Stimmung bereits derart angeheizt, dass ganze Bevölkerungsgruppen, grossenteils in Tracht gekleidet, nach Bayreuth reisten, um ihrem «Führer» zuzujubeln, der sich nur zu gerne auf dem Balkon des Festspielhauses zeigte. Auch aus dem Egerland machte sich in diesem Jahr eine Delegation auf den Weg ins ungefähr 120 Kilometer entfernte Bayreuth, unter ihnen meine Grossmutter mit ihrer Tochter Inge, die damals schon bald 13 Jahre alt war, aber immer noch in ihre Egerländer Tracht passte, die sie schon als Achtjährige getragen hatte. Dieser Umstand führte schliesslich dazu, dass der als Kinderfreund bekannte Adolf Hitler, während er sein Bad in der Menge nahm, der «kleinen Inge» zuwinkte und seinen Untergebenen auftrug, dieses kleine Mädchen zu ihm auf den Balkon zu bringen. In Unkenntnis ihrer Wachstumsstörung und ihres wirklichen Alters hob er Inge auf seinen Arm und präsentierte das «deutsche Mädel» in ihrer Tracht, die er sehr wohl erkannt hatte, dem brausenden Publikum und versprach, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis das Egerland zum Grossdeutschen Reich gehören würde.
Spätestens hier war es natürlich vorbei mit der Unbefangenheit, und was meine Tante Inge betraf, so würde sie sich zeit ihres Lebens nie mehr freimachen von diesem Erlebnis und allem, was damit zusammenhing. Durch diese Begebenheit wuchs die grosse Schwester, die zum Kleinsein verurteilt war, zu einer neuen Grösse innerhalb der Familie und auch in Dorfgemeinschaft und Schule. Nach dem Zusammenbruch des «Dritten Reichs» wurde die Episode, wenn überhaupt, dann nur unter vorgehaltener Hand erzählt. Trotz, oder vielleicht gerade wegen ihrer Kleinwüchsigkeit, behauptete sich meine Tante Inge übrigens auch nach Kriegsende und bis zu ihrem Tod Ende des Jahres 2000 im Leben; sie verzichtete auf einen Status als Körperbehinderte, erledigte gleichzeitig mehrere Arbeitsstellen und erhielt von ihren Nichten und Neffen den Spitznamen «Kulturtante», den sie sich durch das stete Teilen ihrer Liebe zu klassischer Musik und Theater verdient hatte.