Das Schreiben erfüllte und beseelte mich
Erfahrungsbericht von Susanne Rickenbacher-Graf
Schon längere Zeit konnte ich zusehen, wie sich der Parkettboden vor dem Bad im Dachgeschoss verfärbte. Er wurde immer dunkler. Was ich befürchtete, trat ein. Ein Wasserschaden. Lange Untersuchungen ergaben, dass an der Wand der Dusche durch die alten Plättli undichte Stellen entstanden waren. Das Wasser lief unter den Boden und machte das Parkett kaputt. Eine Trocknungsmaschine sollte erstmals alles trocknen. Diese lief vierundzwanzig Stunden am Tag, während drei Wochen. Danach musste alles saniert werden, neue Wandplatten, neue Duschwanne, Teile des Parketts mussten ersetzt werden. Plötzlich tropfte es auch noch durch die Decke ins untere Badezimmer.
Ich floh vor dem Lärm der Trocknungsmaschine und mietete mir für drei Wochen eine Ferienwohnung auf der Insel Reichenau, mit Blick auf den Bodensee. Die Insel war ausgestorben, im März gab es keine Touristen, und nur ein Restaurant und ein Einkaufsladen waren geöffnet. Es war eisig kalt und die Ufer des Sees waren zugefroren. Ich fror an die Ohren und suchte verzweifelt nach einer Mütze, fand aber auf der ganzen Insel keine.
Wenn ich am Stubentisch sass, sah ich auf einen grossen Garten, in dem die Oma des Hauses herumwerkelte, und vorne auf das Ufer des Sees, an dem sie Feuer machte. Fast jeden Tag hielten wir ein Schwätzchen.
Ich wollte mit meiner Biographiearbeit ein Stück weiterkommen. Auf einer langen Papierrolle zeichnete ich einen Lebensstrahl mit Anfangspunkt und ohne Endpunkt und notierte alles auf, was mir zu meinem Leben in den Sinn kam. Interessante Zusammenhänge und neue Erkenntnisse entstanden. Parallel dazu las ich Bücher zum Thema Kernfamilie, Beziehungen zu den Eltern und Geschwisterkonstellationen und Beziehungen untereinander. Das waren alles Themen, die mich brennend interessierten.
Als ich dann, ein paar Monate später, im Garten durch einen dummen Fehltritt meinen Fuss verletzte und ein paar Wochen mit einem Bänderriss durch die Gegend humpelte, erinnerte ich mich wieder daran, dass ich ein autobiografisches Buch schreiben wollte. Und nun hatte ich Zeit dazu. Im Internet fand ich einen Hinweis. Martin Heller, der ehemalige Direktor der Expo, hatte ein Projekt gegründet, die Edition Unik, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Menschen zu unterstützen im Schreiben eines Buches. Ich war Feuer und Flamme und meldete mich an.
Als erstes kaufte ich einen Schreibtisch und stellte ihn in unser kleines Gästezimmer. Hier konnte ich ohne Nebengeräusche ungestört schreiben.
In meiner Agenda gab es nur ein paar wenige Termine in den nächsten vier Monaten. Ich wollte mich ganz dem Prozess des Schreibens hingeben und eintauchen in die Vergangenheit.
Mit elf Jahren hatte ich begonnen, Tagebuch zu schreiben. Im Keller holte ich meine gesammelten Tagebücher und Briefe, die ich in einer riesengrossen Schachtel aufbewahrt hatte und begann damit, sie zu lesen.
Ich schrieb jeden Tag, manchmal eine Stunde, manchmal mehrere Stunden, und manchmal konnte ich gar nicht mehr aufhören mit Schreiben. Zwischendurch machte ich stundenlange Spaziergänge um das Durcheinander von Gedanken zu ordnen, alleine, mit meinem Mann, meiner Nachbarin oder einer Freundin. Ich durchlebte viele Episoden meiner Lebensabschnitte so intensiv, dass ich befürchtete, ich würde in diesen Zuständen von Langeweile, wenn ich alleine auf der Schaukel an heissen Sommernachmittagen schaukelte, erstem Verliebtsein, Konflikten mit dem Vater in der Pubertät, Angst zu spät heimzukommen, beengenden Gefühlen in der kleinen Wohnung in der Kleinfamilie, Trauer und Verzweiflung nach dem Bruch der ersten Liebesbeziehung, verharren und den Weg nicht mehr herausfinden.
Sehr zu meinem Erstaunen entstanden keine Schreibblockaden, es schrieb sich von selbst. Natürlich stellten sich immer wieder Fragen, Fragen nach Kapitelüberschriften, nach der Titelgebung, darf, soll, kann ich alles so schreiben, damit ich niemandem zu nahetrete, niemanden verletze, wieviel möchte ich von mir preisgeben, wer sind meine Leserinnen und Leser?
Das Schreiben erfüllte und beseelte mich.
Die Buchübergabe im Kosmos war ein schöner und feierlicher Moment. Ein feiner Apéro und die Lesungen aus den frisch gedruckten Büchern machten den Anlass zu einem einmaligen Ereignis. Ich war glücklich.
Mein Buch «Es war eine Hermes» widmete ich meiner einundneunzigjährigen Mutter. Darüber freute sie sich riesig und gratulierte mir dazu. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie, auf ihrem kleinen Sofa sitzend, in ihrem kuschelig gemütlichen Stübchen im Altersheim, mein Buch lesend, nicht mehr aufhören konnte mit Lesen. Als sie die Kapitel las, die ich über sie und unsere Familie schrieb, sagte sie mehrmals: «Genau so war es, genau so!»
Das Schreiben meines Buches hatte grosse Auswirkungen auf meine Befindlichkeit. Ich erkannte Zusammenhänge in meiner Herkunftsfamilie und begann, mich, meine Eltern und meinen Bruder besser zu verstehen.
Mein Buch löste bei den Leserinnen und Lesern Gedanken und Gefühle aus und eigene Erinnerungen an Früher kamen auf, was ich nicht erwartet hätte und mich überraschte. Daraus entstanden spannende und sehr offene Gespräche, was mich freute, erfüllte und bereicherte.
Die Buchvernissage in der Altstadtbuchhandlung in Bülach für meine Freundinnen und Freunde war der Höhepunkt. Ich las aus meinem Buch und eine Freundin spielte zu den Kapiteln passende Musikstücke auf der Handorgel, begleitet von ihrem Sohn mit der Klarinette. Was für ein ergreifend schöner Abend!
Drei Monate nach dem Erscheinen meines Buches schrieb ich: Es ist etwas passiert. Ich erwache froh am Morgen und freue mich auf den Tag. Ich muss nicht mehr gegen das Düstere ankämpfen. Ich kleide mich farbiger, bin spontaner geworden und kann besser auf Menschen zugehen. Hat das Buchschreiben solches ausgelöst?