Der Aufhänger

Aus: Hanni Flury, 10 Jahre eniline

Jonathans Einstieg in die Berufswelt war ebenfalls nicht sehr geglückt. Die kaufmännische Lehre, die er absolvierte, war alles andere als sein Berufsherzenswunsch. Sie galt als gute Grundausbildung und durch gute Beziehungen seiner Tante Monika – Mone, wie sie allseits genannt wurde – konnte er diese für ihn schwierige Lehrzeit bei einer Baufirma in Olten durchstehen. Wie auch seine Brüder hatte er stets Mühe, sich in den Alltag eines grossen Betriebs einzufügen und fand sich auch nicht zurecht mit seinen Vorgesetzten. So war es sein grösster Wunsch nach der Lehre, dass er weg wollte. Er wollte reisen, hatte zunächst aber kein Ziel.

Schliesslich machte er sich auf zu einer Weltreise, die ihn über Australien schlussendlich nach Asien führte. Von Anfang an war er fasziniert von diesem Kontinent und fühlte sich zu diesen zurückhaltenden, höflichen und feinen Menschen dort hingezogen. So liess er sich in Chiang Mai nieder, sass am Boden mit anderen Backpackers, knüpfte Kettchen und verkaufte diese an die Touristen. Natürlich reichte dabei das Geld nicht aus und so kam er immer wieder zurück in die Schweiz und arbeitete in temporären Jobs. Wenn er genügend Geld hatte, flog er wieder zurück nach Thailand.

Er suchte während dieser Zeit immer wieder neue Herausforderungen und sein Ziel war, in Thailand etwas zu finden, das ihm ermöglichen würde, sich in diesem Land ansässig zu machen. In Chiang Mai lernte er nicht nur Touristen kennen, sondern auch andere Ex-Backpackers. Sie alle hatten das gleiche Problem mit dem Geldverdienen. Dabei kamen verschiedene Ideen auf und Jonathan lernte Leute kennen, die bereits versucht hatten, Sachen auf Ebay zu verkaufen. Aus diesem Grunde kaufte er sich seinen ersten Laptop. «Vorher hat mich sowas nicht interessiert. Und Ebay war damals die erste Plattform im Online-Handel.» Die Frage stellte sich also, was lässt sich am besten über Ebay verkaufen? Das war der erste Kontakt mit der Textil- und Kleiderbranche. Er verkaufte zu Beginn Fussball-Shirts und Markenjeans an die halbe Welt. Dieses Geschäft war lukrativ, denn in Thailand war die Kleiderbranche gross.

Mittlerweile lebte Jonathan schon drei Jahre mehrheitlich in Thailand und war noch immer auf der Suche nach einer gesicherten Existenz in diesem Land. Es war sehr schwierig. Wieder einmal in der Schweiz, sah er durch Zufall eine kleine Annonce in der Zeitung, in der ein Schweizer Modegeschäft, das massgeschneiderte Anzüge verkaufte, einen Aussendienstmitarbeiter suchte. Dieser sollte die Ware europaweit vertreiben. «Das tönte interessant. Vor allem das Wort “europaweit” hat mich angesprochen. Ich sah mich schon in einem Wagen quer durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz reisen und irgend etwas verkaufen», sagt er heute.

Doch beim Vorstellungsgespräch in Zürich stellte sich schnell heraus, dass Jonathan die falsche Person für diese Stelle war. Zum einen entsprach sein Outfit dem gefragten Modeverkäufer nicht. Vermutlich war er zudem unrasiert und trug sicher seiner Lebensweise entsprechend kurze Freizeithosen und ein T-Shirt. Zum andern passten auch die gegenseitigen Vorstellungen nicht überein.

Dennoch funkte es irgendwie beim Gespräch mit diesem Geschäftsleiter. Er gab zwar Jonathan bald zu verstehen, dass die ausgeschriebene Stelle nichts für ihn sei. Aber er interessierte sich für sein Leben in Thailand und fragte ihn nach seinen Vorstellungen. Denn mit dem Land war sein Interesse geweckt. Er erzählte Jonathan, dass er die Anzüge in der Türkei und in Thailand herstellen liess. Und er erzählte ihm auch offenherzig, dass er Probleme mit der Produktion in Thailand hätte und dies vorwiegend wegen der Kommunikation.

Dies war der Zeitpunkt des Vorstellungsgespräches, bei dem es im Innern von Jonathan klickte. Er wusste genau in diesem Moment: Das ist meine Chance. So erzählte er seinerseits von seinen Nebenjobs in Thailand, seinem Online-Handel mit Textilien. Gefragt, ob er denn auch mit Massanzügen Geschäfte mache, konnte er nicht anders, als hoch zu pokern. So musste er bluffen, als der Typ spontan einen Anzug hervorholte und diesen Jonathan zur Prüfung und zur Stellungnahme reichte. «Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine blasse Ahnung von einem Massanzug, geschweige denn, je einen selber getragen.»

Doch das war jetzt die Chance, und er wusste, dass er sich jetzt gut und überzeugend verkaufen musste. Er nahm den Kittel und krempelte einfach mal die Ärmel nach aussen. Dann ging er den Nähten interessiert nach und gab die Jacke nach einer Weile wieder schweigend zurück. Der Mann aber wollte jetzt seine Meinung wissen. Doch Jonathan lehnte ab und sagte, dass er hier an einem Vorstellungsgespräch sei und es ihm deshalb fern läge, über das firmeneigene Produkt herzuziehen. «Was denn das bedeuten würde?» Der Mann schaute ihn noch interessierter an. Jonathan pokerte hoch und sagte langsam, er könnte ihm sicher etwas Besseres besorgen als dies hier. Der Mann war so verblüfft, dass er in seine Tasche griff und Jonathan 500 Franken hinstreckte. «Okay, den Job bekommst du nicht, aber das, was du eben gesagt hast, musst du mir beweisen. Wir bleiben in Kontakt.» Den Anzug konnte Jonathan mitnehmen.

In der Folge überlegte Jonathan sich, wie er das nun bewerkstelligen konnte. Seine Vorstellung war, dass er nun keinesfalls nach Thailand zurückwollte, um dann für diesen Typen zu arbeiten. Dann hätte er ja wieder einen Chef, eine Autoritätsperson, für die er rumrennen und nach seiner Pfeife tanzen müsste. So stand plötzlich der Entschluss fest, sich selbständig zu machen. Er nutzte die Zeit in der Schweiz neben seinem damaligen Aushilfsjob im Inselspital in Bern in der Buchhaltung und Administration. Er erkundigte sich, erledigte alle Formalitäten und gründete seine eigene Einzelfirma namens Jowear.

Zurück in Thailand meldete Jonathan sich bei Jean, so hiess der Mann in Zürich. Er machte ihm den Vorschlag, dass er, falls er Interesse hätte, seine Massanzüge direkt bei ihm bestellen könne und nicht mehr mit den Thais verhandeln müsse. Da seine Firma in der Schweiz ansässig war, wäre das für ihn sowieso von Vorteil, weil er dann direkt mit Schweizerfranken auf sein Geschäftskonto bei der Postfinance bezahlen könne.

Natürlich musste Jonathan aber jetzt zuerst den Beweis für seine Behauptung erbringen. Es war ihm dabei klar, dass er jetzt nicht mehr nach Chiang Mai zurückkehren konnte, sondern nach Bangkok musste, wo er grössere Chancen hätte, Schneider und Fabriken zu finden, um sein Geschäft aufzubauen. So flog er nach Bangkok, ohne die Stadt oder die Menschen zu kennen ausser vielleicht ein paar Nasen. Er musste von Null an anfangen. Zuerst ging er ins Touristenviertel. Er mietete eine billige Bleibe in der Nähe der Khaosan Road. Den Massanzug hängte er an einen Bügel, und das war fortan jeden Tag das Erste, was er beim Erwachen und das Letzte, was er beim Schlafen gehen sah. Sein Ziel war, einen Produzenten finden.

Und dann ging er los. In Bangkok gab es zahlreiche Schneider. Er ging zu ihnen und wollte jeweils mit dem Manager reden. Er stellte ihnen sein Konzept vor und erzählte ihnen von seiner Idee. Dabei machte er ihnen klar, dass er nicht interessiert sei, hier und jetzt einen Anzug für sich schneidern zu lassen. Er wollte gerne ein Geschäft aufbauen und Reseller werden. Er bot ihnen an, dass er die Arbeit damit auch für sie einfacher machen würde. Er würde für sie das Diskutieren mit dem Schweizer Kunden übernehmen und da er hier vor Ort wäre, müssten sie nur mit ihm verhandeln.

Jonathan fand bald mal heraus, wer interessiert daran oder wer nur auf das schnelle Geld aus war. Er schrieb sich alles fein säuberlich in einem Büchlein auf, machte sich genaue Notizen über Positives und Negatives. Nachdem er sicher vierzig Kontakte und Gespräche hatte, sagte er sich, dass er nun die besten drei auswählen würde. Diesen drei Schneidern gab er allen den gleichen Auftrag. Er zeigte ihnen den besagten Anzug und sagte ihnen, dass ihr Anzug einfach besser und die vorliegende Qualität übersteigen müsse. Mehr konnte er ihnen nicht sagen.

Diese drei neuen Anzüge wurden dann in die Schweiz geschickt. Jean war ganz begeistert. Zum einen, weil Jonathan Wort gehalten hatte und zum andern, dass er für seine 500 Franken nun sogar drei Anzüge bekam. Er gab diese drei Anzüge Schweizer Schneidern zur kompletten Qualitätsprüfung. Und es war ja wohl kein Zufall, dass er sich für die Schneiderei entschied, mit welcher auch Jonathan sich am besten verstanden und sich gut und richtig gefühlt hatte. Dieser hatte die beste Qualität geliefert. Ab diesem Zeitpunkt kamen Aufträge um Aufträge aus der Schweiz und ca. drei Monate später war Jowear, Jonathans Firma, bereits der Hauptlieferant von Jean.

Den beiden älteren Brüdern blieb das natürlich nicht verborgen. Die Brüder diskutierten oft, und Jonathans Erfolg ermutigte sie, sich zu neuen Ufern aufzumachen. Bei einem Treffen kreierten sie auch schon einen Namen für ihren zukünftigen gemeinsamen Brand. Er sollte GianniGualtiero heissen, nach den Namen ihrer Grossväter.

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