Eingrenzung
Aus: Markus Briner, Die Jahre in Bildern
Man muss tapfer sein, ein kleines Leben zu leben. Und man braucht sehr viel Mut, davon zu erzählen. Geschichten über kleine Leben, die von kleinen Leuten erzählt werden, sind deshalb selten. In der Regel hören wir von grossen Leben, erzählt von grossen Leuten. Sie sind gewiss erzählenswert und unterhaltend. Sie sollen uns kleinen Leuten zum Beispiel werden, uns den Weg weisen und uns leuchten.
Und vielleicht spornen sie den einen oder anderen von uns ja auch an. Und vielleicht werden aus kleinen Leben so manchmal grosse, die dann wieder von grossen Leuten für uns kleine erzählt werden. Und vielleicht tun sie das ja auch absichtslos. Einfach, weil es schön ist und anrührend von kleinen Leuten zu lesen, die es zu den grossen geschafft haben. Das nährt den Traum wesentlich zu werden. Die meisten kleinen Leben aber werden nicht erzählt.
Es gibt kleine Leben, die werden von grossen Leuten erzählt. Die dann davon erzählen, wie es ist ein kleines Leben zu führen. Grosse Leute sprechen dann in gescheiten Runden über die Kunst der Darstellung der kleinen Leben. Anerkennend und manchmal lobend. Und manchmal auch etwas ungehalten. Es gibt halt wenig Grosses zu erzählen aus kleinen Leben.
Manchmal werden kleine Leben auch ganz gross erzählt. Von grossen Leuten und nicht absichtslos. Sie sollen Ideen Gestalt geben und diese beliebt machen. Sie werden dann gross und wesentlich gezeichnet und verraten sie gerade deshalb.
Kleine Leben, die von kleinen Leuten erzählt werden, gibt es aber selten. Diese nicht erzählten Geschichten, die den Raum zwischen uns, gleichwohl ohne ausgesprochen zu werden, erfüllen, werden meist mit ihren verstummten Erzählern begraben und kein Wort drang je nach aussen. Dabei sind die meisten Leben kleine Leben. Die Frage, ob sie erzählt werden müssen oder nicht, ist bedeutungslos. Aber es ist von grosser Bedeutung, dass sie erzählt werden können. Dass wir uns gegenseitig zuhören und uns unsere kleinen Geschichten erzählen, denn wir haben keine anderen. Und sie sind deshalb für uns wesentlich. Ich kann nur mein Leben leben. Wohl kann ich mich an anderen Leben, den grossen, berauschen, sie mir zum Beispiel nehmen, ihnen nacheifern, aber leben kann ich sie nicht. Auf dem Weg zu mir selber sind sie nur Ballast, von dem ich mich befreien muss, damit ich mich selber erkennen kann. Es ist erstaunlich, wie viele Geschichten man mit sich herumträgt. Oft geht dabei die eigene verloren.
Vielleicht lesen wir kleinen Leute einfach auch so gerne Geschichten von den grossen, weil wir glauben, dass ihre Leben sinnerfüllter seien. Mehr Sinn ergäben. Und danach suchen wir ja alle. Weshalb sonst würden wir dieses ganze Leiden, das wir Leben nennen, ertragen. Deshalb jagen wir allen möglichen Vergnügungen nach und glauben damit unsere Leben wesentlich zu machen. Aber, wenn wir genauer hinsehen, dann sehen wir natürlich dieses Leiden auch in den grossen Leben. Und ein Leben wird nicht bedeutender, nicht sinnvoller, je mehr man angehäuft hat oder je wichtiger die Aufgaben, die einem gestellt werden, scheinbar sind. Weshalb stehe ich am Morgen überhaupt auf und bleibe nicht einfach liegen? Was lässt mich unverdrossen weitermachen und nicht aufgeben? Vermutlich scheint es eben für uns alle einfacher zu sein, wenn das grosse Dinge sind. Aber die meisten Leben bestehen eben aus den kleinen Dingen. Die gelegentlichen Feiern, hin und wieder ein paar Tage Ferien, sich in eine Frau oder einen Mann verlieben usw. Darin liegt gerade der Mut, kleine Leben zu erzählen und noch viel mehr die Tapferkeit, diese zu leben. Im Kleinen einen Sinn zu entdecken und sich an den meisten Morgen auf einen neuen Tag zu freuen, darin liegt die grosse Kunst. Und darin sind wir uns alle gleich. Wir teilen viele unserer Hoffnungen, aber auch unserer Ängste. Sie verbinden uns. Aber auch die gemeinsamen Leiden verbinden uns alle. Im Leiden sind wir alle zusammen viel mehr ein ganzer Körper, als wir denken. Auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, uns als Individuen zu betrachten, als eine Einheit, unteilbar, ist unsere Erfahrung doch eine andere. Wir sind natürlich zu tiefst gespaltene Wesen, die aus unterschiedlichsten Teilen bestehen. Aus Teilen, die wir alle miteinander gemeinsam haben. Wir nennen sie Kultur oder Bildung oder Religion usw.. Die Sehnsucht nach dem bedeutungsvollen Leben, der Wunsch nach einem sinnvollen Dasein ist tief in uns allen. Und so ist es für uns offenbar einfacher, in den grossen Geschichten über grosse Leute, die von grossen Leuten erzählt werden, unsere Sehnsucht kurzzeitig zu stillen. Doch diese Sehnsucht ist so nicht zu stillen. Das spüren wir ganz fest. Deshalb verlangt es uns nach immer neuen Heldengeschichten, um die vor uns leer gähnenden Abgründe zu füllen. Mit einem Wort, die Welt erscheint uns ganz ohne diese Geschichten, als absurd und abweisend. Nur manchmal, zu ganz bestimmten Zeiten, da fühlen wir uns ganz zu Hause, wo wir sind. Das hat mich schon als kleiner Junge sehr beschäftigt. Ich habe damals die Erwachsenen nur in ganz bestimmten Situationen als wahrhaftig erlebt. Eine davon waren Beerdigungen.
Also…
Da wird einer also begraben und einige stehen um ein Grab und der Pfarrer spricht und die einen weinen und andere treten leise von einem Fuss auf den anderen und jemand schluchzt. Und immer ist es kalt und grau oder viel zu heiss und bleiern aber nie angenehm in meiner Erinnerung. Später hocken sie um Tische in irgendeiner Beiz und trinken auf ihn oder sie und nicken sich zu und erzählen von gemeinsamen Erlebnissen und ganz allmählich entsteht eine neuer Mensch, ein grösseres Leben und es bekommt Bedeutung und wird wesentlich und der Abschied fällt uns leichter und wir bleiben noch ein wenig sitzen, bevor wir dann wieder auseinandergehen, jeder in seine Ecke zurückkehrt und allmählich vergessen wir die Beerdigung und das gemeinsame Abschiednehmen und das Essen und den Pfarrer und hocken da und machen Licht, da die Sonne sich verdrückt hat und die Böden knarren und die Radiatoren husten und aus der Toilette rauscht der Spülkasten und in der Küche tropft es und dann wird es Zeit und wir kuscheln uns und hören und sehen in flimmernden Kisten von den grossen Leben, dem Ruhm, den Taten und lassen uns einseifen und täuschen und glauben, dass diese Leben gross und wichtig sind und wir damit und wir wachsen so dem Himmel entgegen und werden gross. Aber retten kann uns das nicht. Gross stellen wir uns das immer vor. Dabei endet alles im Kleinen. Am Schluss und ganz zu Ende sind sie alle still und ruhig und die Winde stehen still und da sind keine Posaunen und nichts schlägt mehr an die Tür und alles wäre zu viel, das jetzt noch dazu kommen würde, egal wie viel, egal wie weit und gross und schön. Das will natürlich keiner glauben und alle tun sie so, als wäre Trost nicht Trost, als ob es auch in dieser Stunde noch Unterschiede gäbe und man sie bestechen könnte, die da anzufliegen kommen und suchen sich Vorteile und versuchen sich durchzuschlängeln, beurteilen, urteilen und teilen in Kategorien ein. Alles sinnlos, alles umsonst, es gibt sie nicht diese Unterschiede, es sind nur Kategorien im Kopf, die wieder Kategorien schaffen und dann gucken sie in blinde Spiegel und glauben, dass da etwas Grosses sei und erkennen sie nicht mehr, die Geister, die sie selber geschaffen haben und sie jetzt narren und wenn viele daran glauben, ist es nicht wesentlicher, aber unheimlich mächtig und kann zerstückeln, zerschiessen und unter die Scholle graben. Und beim nächsten Mal stehen wir wieder da, immer weniger werdend und erzählen uns die Geschichten, die uns gehören und die uns ausmachen und treten von einem Fuss auf den anderen und einige weinen und andere erinnern Dinge, die sie lange schon vergessen glaubten und einer erzählt noch dies und jener ergänzt und zusammen entstehen grosse Geschichten, wie sie nur entstehen, wenn Kleine zusammen stehen und erzählen und sich erinnern und vermischen und verzweifeln und dieser Verzweiflung Ungeheures entgegen zu stellen wagen und so stehen die, die sie schon verloren glaubten, wieder auf. Und so spielen die grossen Leben nur noch kleine Rollen, die kleinen aber werden gross. Und wenn wir dann nach Hause gehen, hat es uns gut getan, auch wenn es traurig war und wir fühlen uns wieder wesentlich und sinnen nach und hoffen weiter und warten. Und davon handeln also diese Geschichten von nichts und allem, wollen erzählt werden und einige fanden in mir ihren Barden, der sie erzählt, denn was sollten wir sonst erzählen, wir haben keine anderen Geschichten. Und das hat mich schon ganz klein erfasst, war es die eine Falte unterm Auge, der gebogene knorrige Zeigefinger oder die fahle Haut der Tante? Ich weiss es nicht, aber es waren kleine Zeichen, Haarrisse, die mich mahnten und die mich in Gedanken hinfortgerissen haben und ich liess mich reissen und fand es fürchterlich und tröstlich zugleich und obwohl ich nicht sagen konnte, was mit mir geschah, begriff ich instinktiv, dass es wesentlich war und so wuchsen mir damals die Erwachsenen für Momente ans Herz, sie wurden wahr und wesentlich, auch wenn ich nicht wusste weshalb. Und mit jedem Tag, der danach verging, entglitten sie mir wieder und wurden mir wieder fremd und unbegreiflich. An diesen Beerdigungen aber war es mir, als ob sie für eine kurze Zeit die Masken fallen gelassen hätten und darunter sich Gesichter zeigten, in denen ich mich erkannte und die mir nahe kamen. Ich fühlte mich nicht weiter allein, wir teilten für kurze Zeit eine gemeinsame Geschichte.