Kapitel V [Ausschnitt]

Aus: Rolf Graf, acht mal acht

Zu Hause. Die Situation am Arbeitsort beschäftigt mich. Ich bin Oberstufenlehrer und sogenannter Hausvorstand, ich unterrichte in der Stadt Zürich im Kreis 5, im Industriequartier. Meine Schülerschaft ist bunt gemischt, zwanzig Schüler aus acht Nationen. Spannend, interessant. Das beschäftigt mich nicht, nein, Zürich leidet unter einer offenen Drogenszene. Der Platzspitz, ein grüner, barocker Park zwischen unserem Schulhaus und dem Hauptbahnhof, ist im Laufe der Zeit zu einer tolerierten, offenen Drogenszene geworden. Neudeutsch heisst er nun Needle Park. Noch vor kurzem habe ich hier mit den Schülern geturnt, habe den 80 Meter-Lauf hier absolviert. Marcel war der Allerschnellste. Oder wir zeichneten, Aquarellmalerei à la Cézanne.

Nun ist das nicht mehr möglich, bis zu 3000 Fixer fixen, vegetieren, prostituieren sich und sterben hier. Wenn man vorbeiläuft, sieht man die Kreaturen umherirren, immer wieder ertönen laute, verzweifelte Schreie. Am 5. Februar 1992, kurz vor den Skiferien, schliessen die Behörden der Stadt diesen Park, nun sind die Elenden vor dem Schulhaus, rund ums Schulhaus, überall im Quartier. Sie schlafen in den Hauseingängen, kotzen, pissen, scheissen, lassen ihre Spritzen liegen. Auf dem Schulweg sehen die Schüler all das Elend, immer wieder liegt eine Kreatur sich krümmend elendiglich auf dem Trottoir. Schülerinnen werden von Freiern angemacht, vor dem Schulhaus setzen sich Fixer einen Schuss. Überall gebrauchte, blutige Fixerspritzen.

Wie reagieren? Die Schüler sind gerne in der Schule. Im Schulhaus drinnen ist eine Art heile Welt. Wir Lehrer protestieren, schreiben Leserbriefe. Schüler schlagen vor, zu streiken. Was sie tun. Nur ein Schüler aus meiner Klasse, Urs-Peter, will nicht streiken. So gebe ich ihm an diesem Freitag Unterricht. Pythagoras und Akkusativ und Dativ! In den Pausen gehen Urs-Peter und ich nach unten auf den Pausenhof und schauen dem Streiktreiben zu. Am Montagmorgen darauf möchte der Stadtrat mit den Schülern, einer Schülerdelegation, über den Streik diskutieren. Der liberale Magistrat ermahnt die Schüler, dass Streik kein demokratisches Mittel sei. Worauf Marcel und Ornella ihm antworten, die Situation im Quartier sei auch nicht mehr gewöhnlich, demokratisch. Dies verlange andere Mittel, einen Aufschrei.

Ein goldener Schuss mehr. Ein Ex-Schüler liegt tot vor dem Schulhaus. Ein Lehrerkollege versprayt das Nachbarhaus. Immer wieder weinen Lehrpersonen im Lehrerzimmer, hier ist es erlaubt, in den Klassenzimmern versuchen wir normalen Alltag zu leben und den Schülerinnen und Schülern Halt zu geben. Eine Anfrage vom Privatradio, ob eine Lehrperson eine Stunde lang Auskunft geben könnte über unseren Alltag. Ich wurde zum Pressesprecher der Lehrerschaft gekürt, ich lasse mich auf das Abenteuer ein. Zusammen mit einer Hortnerin aus dem Nachbarschulhaus stehe ich dem bekannten scharfzüngigen Moderator Red und Antwort. Wir spüren viel Sympathie, das Radiostudio befindet sich in unserem Quartier. Die Kollegen organisieren einen Marsch zum Stadthaus. Mit Transparenten und Gesängen. Diese grossen, gemeinsamen Aktionen tun der Schülerschaft und den Lehrpersonen gut, es hält aber keinen Fixer vom Fixen ab. Die Presse berichtet betroffen über die geplagten Kinder und Jugendlichen, die grösste Schweizer Illustrierte bringt eine Titelgeschichte mit eindrücklichen Aufnahmen und Berichten. Leserinnen und Leser spenden Geld, wir Lehrer müssen plötzlich ein Bankkonto eröffnen. [...]

Die Schulhausproteste haben den Schülerinnen und Schülern etwas gegeben, Solidarität. Die spüren sie auch. Die Situation im Quartier hat sich aber nicht verändert. Keine Verbesserung. Was kann man da machen, tun? Ein Marsch zum Stadthaus, viel Verständnis, keine Änderung des Elends. Was oder wer ist dann noch mächtiger, wichtiger? Täglich dieser Horror, täglich die verstörenden Meldungen der Schülerinnen und Schüler. Resignieren? Weiter machen wie bisher? Nein, wir resignieren nicht. Ein guter Kollege hat die Idee, nach Bern ins Bundeshaus zu fahren. Es ist die letzte Sessionswoche, nachher sind Weihnachten. Es ist Dienstag. Wir setzen alle Hebel in Bewegung. Und wir kennen viele Leute. Sogar vom Lebensmittelgrossverteiler, der seinen Hauptsitz im betroffenen Quartier hat, werden wir unterstützt. Sie sind bereit, die Reisekosten zu übernehmen. Die SBB reservieren spontan einige Waggons. Es gibt viel zu organisieren. Nicht nur wir Lehrkräfte sind aktiv. Auch die Schülerschaft. Sie malen Plakate, organisieren Ansprachen. Einige Kollegen finden, dass wir uns wieder vermehrt dem eigentlichen Unterrichten zuwenden sollten. Vor lauter Aktionitis würden wir unseren eigentlichen Lehrauftrag vergessen. Dann kommt der Tag. Um 7.00 Uhr laufen wir vom Schulhaus los. Der Hauptbahnhof ist nicht allzu weit weg. Es klappt alles. Die Schüler tragen Transparente und einen mit Fixerutensilien geschmückten Weihnachtsbaum. Passanten in der Bundeshauptstadt klatschen Beifall. Um 11.00 Uhr ist die Session zu Ende. Alle Parlamentarier bekommen von den Schülern ein Flugblatt mit Forderungen. Alle singen nun auch Weihnachtslieder:

«Stille Nacht, heilige Nacht
alles fixt, einsam wacht
nur das schwebende, süchtige Paar
und ein Junkie im lockigen Haar
fixt in himmlischer Ruh’
fixt sich himmlisch zur Ruh.»

Viele sind beeindruckt. Passanten und Parlamentarier. Ins Bundeshaus hinein darf eine Delegation von Schülerinnen und Schülern und Lehrpersonen, sie werden von Zürcher Parlamentariern und den beiden Ratspräsidenten empfangen. Sie bekommen eine Sammlung mit Erlebnisaufsätzen. Der bekannte Obdachlosenpfarrer und Nationalrat spricht mit Schülern. Staatskunde live. Die Schülerschaft wird schweizweit bekannt. Auf dem Heimweg herrscht ausgelassene Stimmung im Zug. Übrigens, Urs-Peter ist nun auch dabei. Er streikt nicht mehr beim Streik.

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Als meine Schwester Gritli das Licht der Welt erblickte