Die Reise nach Tremona [Ausschnitt]
Aus: Stephan Schüepp, Die Reise nach Tremona
Damals – aufgeregt
Aufgeregt war ich, wenn wir jeweils nach Tremona reisten. Ich konnte es kaum erwarten bis wir uns auf den Weg zum Bahnhof machten. Wir gingen auf dem Strässchen an den beiden Bauernhäusern vorbei zur Haltestelle des Nünitrams. Im Bahnhof ging der Vater immer etwas voraus, er wusste genau wohin, war manchmal etwas ungeduldig, wenn wir nicht schnell genug waren. Er bugsierte uns dann in einen Wagen und für mich war klar, dies sind die besten Plätze. Wichtig war, dass ich am Fenster sitzen konnte. Der Vater hatte die Angewohnheit, immer noch einmal aus dem Zug zu steigen und auf dem Perron hin und her zu gehen. Das machte mir Angst, denn was wäre passiert, wenn der Zug ohne den Vater abgefahren wäre? Es ist nie passiert, der Vater stieg immer wieder rechtzeitig ein, runzelte die Stirn und sagte, der Zug sollte jetzt fahren. Sei aber wegen dem vielen Gepäck zu schwer, wir müssten schieben. Ich stemmte mich gegen die Sitze, als würde ich einen Wagen anschieben. Alle, auch meine grossen Geschwister machten mit. Es nützte. Plötzlich, hoppla, der Zug fing an zu fahren. Der Vater wusste immer genau, was jetzt kommt, welche Station, auf welcher Seite man den See sieht, wann man wieder aus- und umsteigen muss. Er wusste alles. Der Kondukteur kam mit seiner steifen Mütze und ich konnte ihm die Billette geben. Er nahm eine Zange hervor und knipste sie.
Manchmal durfte ich das Fenster öffnen und genoss den Fahrtwind, hörte, wie das Gebimmel bei den Bahnübergängen immer näher kam und langsam wieder verschwand. Spürte, wie die Wagen, begleitet von einem «Täm-tä-täm», über die Geleise fuhren. Erschrak, wenn ein Gegenzug mich überraschte, freute mich, wenn ich in einer Kurve plötzlich die Lokomotive oder das Ende des Zuges sehen konnte. An den Bahnhöfen sah ich den Bahnhofvorstand mit der roten Mütze, wie er mit der Kelle winkte. Er war eine wichtige Person. Irgendeinmal hiess es dann sicher: «Es zieht, schliess das Fenster». Genau dieses Ziehen, war ja das Schöne, wenn der Wind übers Gesicht und durch die Haare fegte. Es musste ziehen, doch die Erwachsenen begriffen dies nicht.
Heute – unterwegs nach Tremona
Ich sitze im Zug nach Luzern. Meine Frau Monika hat mich an den Bahnhof begleitet. Der Zug hat sechs Minuten Verspätung. Die Sonne scheint seitwärts durchs Fenster. Eine Frau sitzt im Abteil links von mir, liest und streicht die wichtigen Stellen mit einem grünen Leuchtstift an. Das Fahrgeräusch ist sehr gleichmässig. Es ändert sich, wenn der Zug an einer Mauer vorbeifährt. Plötzlich ein Schlag von der Seite, ich erschrecke, das Fahrgeräusch wird lauter. Ich nehme eine Lokomotive wahr. Es ist ein Gegenzug. Ich sitze im oberen Teil eines zweistöckigen Wagens.
Ich bin hier, weil ich in die Vergangenheit reisen möchte. Kann man mit dem Zug überhaupt in die Vergangenheit reisen? Eher nicht, doch vielleicht hilft diese Reise, dass sich Erinnerungen mit Gefühlen, Wünschen, Träumen und Hoffnungen verbinden. Oder ist es umgekehrt, sind es Gefühle, Wahrnehmungen, Gerüche, Töne, Worte, Menschen, die Erinnerungen wecken. Werden diese Erinnerungen das Bild bestätigen, das ich von dieser Zeit habe? Haben sich diese Erinnerungen im Laufe der Jahre zu Geschichten entwickelt? Geschichten, über die ich nun wie Kleidungsstücke verfüge. Kleidungsstücke, die ich je nach Wetter, Umgebung, Mode auswählen kann. Kleider, die mich schützen, die meine Stärken zeigen, meine Schwächen gut verbergen.
Ich reise ins Tessin, nach Tremona. Es war 1960 und 1961, als ich mit meinen Eltern und meinen drei älteren Geschwistern dort in den Herbstferien war. Ich war vier beziehungsweise fünf Jahre alt. Meine älteste Schwester Elisabeth, war in der Lehre, die zweite Schwester Annamaria im letzten Schuljahr und mein Bruder Klaus in der sechsten bzw. siebten Klasse. Im ersten Jahr war auch Annie dabei, meine behinderte Grosstante. Annie lebte mit ihrer Schwester, meiner Grossmutter, im gleichen Haus wie wir. Meine Grossmutter und Annie assen daheim immer mit uns Zmittag. Ich empfand Annie als etwas eigenartig, doch sie gehörte einfach dazu.
Seither war ich nie mehr in Tremona gewesen. Immer wieder habe ich den Ort auf der Karte gesucht. Habe mir überlegt, wo das Haus mit der grossen Veranda wohl liegen könnte. Wie es wohl wäre, den Ort wieder aufzusuchen. Jetzt will ich es nachholen. Ich freue mich.
Damals – Cheminée, Gomfischnitten
Es war schon Nacht, als wir im Postauto ins dunkle Dorf hineinfuhren. Die Strasse wurde immer enger, bis die Hausmauern direkt hinter der Scheibe zu sehen waren. Das Postauto hielt auf einem Platz und wir stiegen aus. Vater sagte, wir sollten hier warten und verschwand in einer dunkeln Gasse. Nach einiger Zeit kam er mit einer Frau zurück. Er sprach mit ihr, aber anders. Ich verstand nichts. Er schon. Er nahm die Koffer. Ich gab meiner Mutter die Hand und wir folgten ihm und der Frau. Der Weg führte von der Strasse weg zu einem Haus. Im Eingang brannte ein Licht. Es war irgendwie unheimlich, doch da waren ja noch meine Eltern und meine grossen Geschwister, das gab mir Sicherheit. Wir traten in einen halbdunkeln Raum mit komischem Licht. Ein grosser Tisch stand in der Mitte. Ich hatte den Eindruck, es sei die Küche. Plötzlich sah ich in der Ecke Flammen. Da war ein Feuer am Boden. Ich erschrak. Spinnen die, dachte ich, das darf man doch nicht. Doch da sagte jemand: «Ach wie schön, ein Cheminée!» Alle taten so, als sei dies das normalste der Welt. Dies beruhigte mich und die Angst verschwand.
In den Ferien zündeten wir dann jeden Abend das Feuer im Cheminée an.
Gomfischnitten und Liebesbriefe
Am Morgen assen wir das Frühstück draussen auf der Terrasse. Mein Bruder ass viele Schnitten mit Konfitüre, einmal zwölf und ich schaffte es nur auf vier. Es gab wohl Banago, das hatte ich lieber als Ovo. Wenn man einen vollen Löffel in die heisse Milch schüttete, schwamm das Banago wie ein Eisberg in der Milch, bevor dieser dann langsam verschwand. Man musste dann immer gut rühren, sonst gab es eine Nidle, das hasste ich. Mein Bruder ass die Nidle. Als er mir später mal erklärte, dass Cassius Clay so stark sei, weil der die Nidle gegessen habe, versuchte ich es widerwillig auch. Während des Frühstücks auf der Terrasse tauchte dann meistens der Pösteler auf. Mit einem lauten «Bongiorno» kündigte er sich schon von weitem an, winkte mit einem Brief und redete einfach drauf los. Diese Briefe waren für meine Schwester. Wenn sie schon am Tisch war, nahm sie diese sofort in Empfang, öffnete sie, las und war nicht mehr ansprechbar. Sie kamen von ihrem Freund Beat. Wenn sie noch nicht aufgestanden war, nahmen wir den Brief in Empfang und versteckten ihn. Das fand sie weniger toll.