Eine graue Maus beschliesst, Bombshell zu werden

Aus: Ella Pink, It’s Time to Be Glamorous

Im Ballettröckchen und mit dem Hund an meiner Seite zog ich als Kind durch den Wald neben unserem kleinen Bauernhaus. In dieser Aufmachung kletterte ich auf Baumstrünke, überquerte Bäche und lag in Blumenwiesen. Ich war eine schöne Prinzessin in prachtvollen Ballkleidern, eine mutige Zirkuskünstlerin auf dem Trapez, die lebhafte Rote Zora, die sich nicht um Konventionen scherte, und ein glamouröser Hollywoodstar im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Abends konnte ich stundenlang Geschichten und Märchen lauschen. Aber mein Lieblingsbuch war kein Kinderbuch, sondern ein Bildband von Hollywoodstars der 50er-Jahre. Die Frauen waren Leinwandgöttinnen, Bombshells! Sie wurden auf Händen getragen. Was für eine glamouröse Welt. Ich war mir sicher: So eine Bombshell würde ich auch einmal sein.

Für die nächsten 35 Jahre meines Lebens sollte es anders kommen. Wie alle Mädchen ab 1969 wurde ich dazu erzogen, eine solide Ausbildung zu absolvieren. Mir wurde ausserdem beigebracht, dass es zwischen Männern und Frauen keine wesentlichen Unterschiede gebe. Alle hätten sie die gleichen Möglichkeiten und müssten deshalb auch das Gleiche tun. So war es denn auch. Die Mädchen besuchten den Werkunterricht, die Jungs lernten stricken. Unter Teenagern galt es damals als verpönt, eine «Tussi» zu sein. Sich zu stylen, sich für Mode und Promi-Zeitschriften zu interessieren, das alles galt nichts, ja, war geradezu peinlich. Schade, dachte ich, denn mich würden diese Themen interessieren. Mit 16 Jahren hatte ich den Wunsch, Tänzerin zu werden und auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stehen. Ich wollte Künstlerin und Paradiesvogel sein. Davon wurde mir abgeraten. Eine Frau sollte kein Paradiesvogel sein, sondern einen vernünftigen Beruf mit Zukunft anstreben. Ich entschied mich deshalb dafür, Juristin zu werden, wie es schon mein Grossvater und mein Vater gewesen waren. Meine Familie und alle, die ich liebte und denen ich es recht machen wollte, waren begeistert über diesen vernünftigen Entscheid. Die Feierlichkeiten zur Überreichung des Anwaltsdiploms war wohl einer der glücklichsten Tage meiner Mutter. Meine Mutter hatte nach einer Operation an der Halsschlagader einen Hirnschlag erlitten und war seitdem an den Rollstuhl gebunden. Es hatte mir viel bedeutet, sie glücklich zu sehen. Also machte ich weiter.

In meinem Praktikum in einer Anwaltskanzlei krempelte ich mir die Ärmel meines Hosenanzugs hoch, um meinen Ruf als vielversprechende junge Juristin jeden Tag aufs Neue zu verteidigen. Ich wollte mir damit die Achtung meiner Mitmenschen im Allgemeinen und diejenige meines männlichen Praktikumskollegen im Besonderen verdienen. Mein Praktikumskollege schätzte mich als Kollegin. Manchmal assen wir zusammen in der Küche der Kanzlei zu Mittag aus unseren Plastik-Lunchboxen und diskutierten über Fälle. In der gleichen Kanzlei arbeitete eine junge Sekretärin. Sie machte sich schön zurecht, schminkte sich gekonnt, kleidete sich farbig, feminin und sexy. Ihr Rock war etwas zu kurz. Sie rackerte sich nicht ab, ganz im Gegenteil. Sie nahm alles leicht, liess ihren Charme spielen und bat meinen Praktikumskollegen bei jeder Kleinigkeit um Hilfe. Dieser, geehrt, in Anspruch genommen zu werden, legte sich für die Sekretärin ins Zeug. Es kam so weit, dass der junge Anwalt die meisten Arbeiten für die Sekretärin erledigte. Schliesslich lud er die Sekretärin zum Abendessen ein und schenkte ihr rote Rosen. «Unglaublich, was mir vor die Nase gesetzt wird», dachte ich. «Eine ‘Tussi’, die nicht vernünftig und fleissig sein will, das auch noch zu ihrem Vorteil ummünzt und mir schliesslich den Rang abläuft. Unverschämt. Irgendetwas mache ich falsch», dachte ich. Ich begann zu analysieren, was die Sekretärin richtig machte, und begriff: Sie war eine der Frauen, wie sie der alte Hollywood-Bildband zeigte: eine Bombshell. Sie war eine Frau, die beim Überqueren der Strasse weder nach links noch nach rechts zu schauen brauchte, denn alle Autofahrer würden umgehend für sie anhalten. Sie war eine Frau, die von Männern wie eine Ballkönigin behandelt wurde. Kurz: Ihr lag die Welt zu Füssen. «Warum ihr und nicht mir?», fragte ich mich.

Auch in anderen Situationen wurden mir Frauen vor die Nase gesetzt, die meinen Traum lebten. In der Tanzschule, in der ich nach dem Abbruch meines Tanztraums hobbymässig weiter tanzte, war zum Beispiel eine Frau, die den Mut hatte, Tänzerin zu werden. Sie gründete ihre eigene Tanzschule und war sehr erfolgreich. Sie konnte sich vor Engagements und Fernsehauftritten im In- und Ausland kaum retten.

Nehmen wir als ein weiteres von unzähligen Beispielen Brigitte Bardot im Film «Und ewig lockt das Weib»: Dieses Geschöpf, das den ganzen Tag nichts anderes tut, als nackt in der Sonne zu liegen oder zu lateinamerikanischen Rhythmen zu tanzen, das kein Studium absolviert hat, keine Karriereleiter emporgestiegen ist, keinen Ehrgeiz hat und es auch noch wagt, eigensinnig zu sein. Diese Frau hat reiche Konzernerben, kultivierte Künstler und Staatschefs um den Verstand gebracht. Diese Frau hat die Welt verzaubert und wurde von namhaften Persönlichkeiten als das Heiligtum Frankreichs bezeichnet.

Irgendwann platzte mir der Kragen ob all den Beispielen von Frauen, die meinen Traum lebten. Wut brodelte in meinem Magen und ich verspürte Neid. Neid, Neid und nochmals Neid. «Das möchte ich auch!», rief ich aus. Ich möchte auch mit Leichtigkeit, Entspannung und Freude durchs Leben gehen. Ich möchte auch, dass die Männer mich auf Händen tragen und dass mir die Welt zu Füssen liegt, wie damals, als ich als Kind in meiner Fantasie eine Prinzessin und ein Hollywoodstar war.

Wie sollte ich das konkret umsetzen? Ich konnte doch nicht einfach zur Bombshell werden. Was sollte aus meiner Karriere als Juristin werden? Anderen und vor allem mir selber gegenüber konnte ich nicht eingestehen, dass ich auf dem falschen Gleis war. Ich hatte bis dahin so viel investiert und konnte andere nicht enttäuschen, denen ich Eindruck machen wollte oder die mich unterstützt hatten. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren und vernünftig bleiben. Also verfolgte ich weitere Jahre den eingeschlagenen Weg und erreichte mehr, als ich mir vorgenommen hatte. Ich wurde Staatsanwältin, und als nächster Schritt stand Richterin an einem hohen Gericht auf dem Plan.

Aber auch diese weiteren Vernunftjahre konnten den Sirenenruf in mir, ein anderes Leben zu führen, nicht verstummen lassen. Der Ruf war sogar noch lauter geworden. Es war nicht mehr zu leugnen, dass es nicht mein Lebensziel war, Streitigkeiten für andere Leute auszufechten oder Mitmenschen anzuklagen. Es war mir auch nicht wichtig, eine «hohe Position» zu bekleiden, wenn der Preis dafür ein tägliches Beweisen und Messen war. Vor allem wollte ich mich in der Berufswelt nicht wie ein Mann benehmen, um Erfolg zu haben. Als Juristin musste ich nämlich stark, entscheidungsfreudig und siegesgewiss auftreten. Ich hatte Auftritte vor Gericht. Das war zwar eine Art Bühne, aber nicht so, wie ich mir die Bretter, die die Welt bedeuten, erträumte. Da standen Sachlichkeit und Überzeugungskraft im Vordergrund. Kein Scheinwerferlicht, kein Glitzer und kein Blingbling. Diese Sachlichkeit und diesen Kampf empfand ich nicht als typisch weiblich. Berufskonform kleidete ich mich in Schwarz und Grau. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, starrte mir eine graue Maus entgegen. Ja, ich war eine graue Maus. Wo war da die Farbe? Wo war da der Sexappeal?

Ich erinnerte mich an die Bombshell in der Anwaltskanzlei. Die Träume aus der Kindheit wurden wieder wach. Auch wenn es unvernünftig klingt: Das waren nicht nur Kinderträume. Ich wollte ein Leben als weibliche Hauptperson führen. Ich sehnte mich nach einem weiblichen Dasein, nach Kreativität, Selbstausdruck, Lebendigkeit und Farbe und begriff: Was ich wirklich wollte, war, ein glamouröses Leben führen und ein weiblicher Star sein – eine Bombshell! Wenn nicht in Hollywood, so doch in meinem eigenen Leben.

Also studierte ich die Bombshells in Hollywood, die Bombshells in meinem Bekanntenkreis und diejenigen auf der Strasse sehr genau. Plötzlich fielen mir überall Bombshells auf. Das führte mich zur entscheidenden Erkenntnis: Es war also auch für ganz normale Frauen wie mich möglich, eine Bombshell zu sein. So eine Frau bin ich. Das Ziel war zum Greifen nah. Und übrigens: Was Marilyn Monroe und Brigitte Bardot konnten, konnte auch. Ich konnte auch ein Kleid in Pink anziehen und Strass-Colliers um den Hals tragen wie Marylin Monroe. Ich konnte auch zu lateinamerikanischen Rhythmen tanzen und nackt in der Sonne liegen wie Brigitte Bardot. Alles andere würde ich mir aneignen und in meiner Welt kreieren. Im Moment war ich einfach eine in einem Hosenanzug verkleidete Bombshell. Es wurde Zeit, diese Verkleidung abzulegen. Und so fasste ich den Entschluss, Bombshell zu werden, unabhängig davon, was die anderen denken würden. Ich musste auch in Kauf nehmen, undankbar zu sein. Ich hatte immer Glück gehabt in meiner beruflichen Laufbahn und wurde überall gefördert. Aber ich konnte nicht mehr länger warten. Es war mein Leben. «Jetzt bin ich dran. Meine Zeit ist jetzt», sagte ich zu mir. Und: «It’s time to be glamorous.»

 
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