Progymnasium
Aus: Jürg Müller, Zum Beispiel
Der Wechsel von der Primarschule in Schönenbuch ins Progymnasium in Allschwil war ziemlich einschneidend. Nach der erfolgreichen Aufnahmeprüfung fing ich sehr motiviert im Progymnasium an. Ich musste aber schnell merken, dass die Anforderungen deutlich höher und die meisten meiner Klassenkamerad:innen gleich gut oder besser waren als ich. Zudem waren vor allem mein Klassenlehrer, den wir in Deutsch, Geographie und Geschichte hatten, sowie die Französischlehrerin sehr streng. Ich musste sehr viel zuhause sitzen und für die Schule arbeiten. Während mir in der Primar die Hausaufgaben leicht fielen, verstand ich jetzt nicht mehr immer alles und es kostete mich sehr viel Mühe, die Arbeiten einigermassen vollständig und rechtzeitig abzuschliessen. Es war für einen Perfektionisten wie mich nicht einfach zu akzeptieren, dass ich Fehler machte und manchmal nur durchschnittliche Noten hatte. In Latein, ein Fach in dem ich immer gute Noten hatte, passierte es mir, dass ich nach den langen Sommerferien im ersten Wörtertest eine miserable Note hatte, weil alles wie weggeblasen war und ich mich erst wieder an die Schule gewöhnen musste. Meine Motivation für die Schule litt stark, und ich versuchte, mehr Befriedigung in Tätigkeiten ausserhalb der Schule zu finden. Ähnlich empfand ich später im Berufsleben die Arbeit oft als notwendiges Übel und war der Überzeugung, dass ich Erfüllung in meiner Freizeit finden musste. Erst in den letzten Jahren habe ich erfahren, dass auch der Beruf durchaus erfüllend sein kann, wenn man eine Arbeit gefunden hat, die zu einem passt.
Meistens fuhr ich mit dem Velo zur Schule, aber manchmal auch per Autostopp. Damals unterstützte die Gemeinde Schönenbuch ganz offiziell das Autostoppen zur Schule in Allschwil. Die Autofahrer, die Schüler mitnehmen wollten, hatten einen Kleber mit dem Schönenbucher Wappen an der Windschutzscheibe. Einmal nahm mich ein Arzt mit, der in Schönenbuch wohnte und in Allschwil seine Praxis hatte. Ich kannte ihn, wie ich die meisten Leute aus dem Dorf vom Sehen her kannte, und er hatte einen Kleber. Ich war ein stiller Bub, sagte lieber nichts als etwas Falsches, und so schwieg ich mehr oder weniger während der ganzen Fahrt. Als ich dann in Allschwil ausstieg, meinte er sinngemäss zu mir, dass ich ihn doch bitte nicht mehr anhalten solle, weil er Schüler mitnehme, um ein bisschen plaudern zu können, nicht um zu schweigen.
Ich fühlte mich damals wie heute in vielen Begegnungen mit andern Menschen unsicher. Ich habe Angst davor, den falschen Namen zu sagen, kein passendes Gesprächsthema zu finden, oder sonst etwas falsch zu machen. Heute habe ich diese Angst ein wenig überwunden und kann durchaus auch mal ins Plaudern geraten. Gerade mit Menschen, die eher zurückhaltend sind, fühle ich mich manchmal «verantwortlich» dafür, ein Gespräch in Gang zu bringen. Es gibt Menschen, mit denen ich sofort ins Gespräch komme, während ich mit andern immer wieder damit kämpfe, ein anderes Gesprächsthema zu finden als bloss das Wetter oder irgendwelche Belanglosigkeiten. Manchmal schweige ich lieber, als «Smalltalk» zu führen. Was ich dann wieder als unangenehm empfinde. Oder ich versuche, mit Originalität oder Spässchen die belanglosen Themen zu umschiffen.
Ich habe immer versucht, lustig zu sein; um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, oder in Situationen peinlicher Stille das Eis zu brechen. Ich war in der Familie lustig, in der Schule, im Beruf. Ich habe eine ziemlich grosse Fähigkeit darin entwickelt, spontan auf ein Stichwort zu reagieren, mit Worten so zu spielen, dass etwas Unerwartetes, Witziges, Ironisches, oder Klischeehaftes entsteht, was die Leute zum Lachen bringt. Natürlich kann es sehr willkommen sein, wenn jemand die Atmosphäre auflockert. Aber ich habe darin eine solche Meisterschaft entwickelt, dass ich fast gar nicht mehr anders kann, als originell und lustig zu reagieren. Ich muss mich richtiggehend darauf konzentrieren, meine spontane Reaktion zurückzuhalten und stattdessen ernst zu bleiben. Ich kann nicht gleichzeitig lustig und ernst sein. Meine lustige Reaktion hat nichts mit meiner Person zu tun. Sie lenkt von mir ab und verhindert, dass ich ernsthaft zu verstehen versuche und mir überlege, wie ich mich zum Gesagten stelle. Ich habe in all den «lustigen» Jahren meines Lebens verlernt, mich zu fragen, was ich selber denke. Auch mein Gegenüber hat keine Chance zu erfahren, wer ich bin und wie ich seine Äusserungen aufnehme; ich bin für ihn oder sie nicht fassbar. Ich möchte lernen, ernsthaft auf mein Gegenüber einzugehen, anstatt vom Thema abzulenken. Hin und wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein Gespräch plötzlich sehr interessant wurde, wenn ich versucht habe zu verstehen, was mir mein Gegenüber sagen will und was ich selber dazu beitragen könnte.
Der Drang, lustig zu sein, hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ich mir selber nicht zutraue, einen ernsthaften Beitrag zu leisten. Was kann ich dem Herrn Doktor schon Interessantes erzählen! Es ist die Methode, die sich für mich als erfolgreich herausgestellt hat, um Aufmerksamkeit zu gewinnen, ohne Stellung beziehen oder eine eigene Meinung haben zu müssen. In der Familie habe ich das Lustigsein so sehr zelebriert, dass meine «schwachen fünf Minuten» schon sprichwörtlich waren. Ich hatte aber auch verschiedene Gelegenheiten, «ernsthaft» Theater zu spielen. Im Progymnasium spielten wir Unsere kleine Stadt von Thornton Wilder. Im Gymnasium führten wir Carlo Goldonis Diener zweier Herren auf. Und auch im Konfirmationsunterricht studierten wir ein Theaterstück ein. «Wie wahr, wie wahr», musste ich dort sagen, was sprechtechnisch eine ziemliche Herausforderung war, um nicht wie ein Esel zu klingen. Zwar konnte ich meistens meinen Text frühestens bei der Premiere auswendig, aber ich glaube, ich stellte mich beimTheaterspielen nicht ungeschickt an. Es machte mir nicht so viel aus, auf die Bühne vor ein Publikum zu stehen und Dinge zu sagen, die ich in meinem Alltag nie sagen würde. Aber dennoch hatte ich immer ein etwas zwiespältiges Gefühl, «so zu tun als ob».