VIII C [Ausschnitt]
Aus: Jana Fikart, OKTAVA C
DIE VIII C – EINE BESONDERE KLASSE
Als am 28. Mai 1945 an unserem Gymnasium der Unterricht wieder begann, kam ich nach fast drei Jahren zurück in meine alte Klasse. Ich erinnerte mich an alle Mitschüler und Mitschülerinnen, und alle erinnerten sich auch an mich. Und wir alle erinnerten uns sehr gut an die Umstände, unter welchen ich die Schule verlassen musste, und dass ich folglich in eine soziale Isolation geriet. Doch all die Jahre interessierte sich niemand, wie es mir ging. Sie übernahmen einfach die offizielle Stellungnahme. So war es denn auch unmöglich, an die Vergangenheit anzuknüpfen: Ich war ein fremdes Element in einem mir fremden Kollektiv. Eine grosse Rolle spielte auch, dass sie während des Kriegs ein relativ sorgloses Leben führen konnten, während mich die Härte dieser Zeit nicht verschonte. Obwohl ich das Jahr bis zur Matura in meiner alten Klasse hätte bleiben können, bot sich die Möglichkeit, in eine neue Klasse zu wechseln. Es meldeten sich nämlich 16 junge Leute, welche die Schule 1942 unverschuldet verlassen mussten. Einige mussten sich verstecken, andere waren als Juden im KZ, wieder andere gehörten nicht zu den 40 Prozent, die zum weiteren Studium zugelassen waren, als die Anzahl Klassen und deren Grösse drastisch reduziert wurde, um über weitere Arbeitskräfte zu verfügen. Für diese Ausgeschlossenen wurde eine separate Klasse genehmigt, die VIII C – mit dem Ziel, sie als eine Art Schnellkurs zu gestalten, um die Matura-Anforderungen innerhalb eines Jahres zu erfüllen. Dies war in jener Zeit nicht so schwierig, da in den Kriegsjahren der Unterricht auf das Grossdeutsche Reich fokussiert war – auf die deutsche Sprache, deutsche Geschichte, Geographie und Literatur, alles Fächer, welche nach der deutschen Okkupation nicht mehr im Lehrplan waren. Es waren folglich wissenschaftliche Fächer, auf die man sich konzentrieren musste. In diese Klasse konnte ich wechseln. Wir waren achtzehn bis zwanzig Jahre alt, aber das Leben jedes einzelnen hätte bereits reichlich Stoff für einen Roman geboten. Ich denke oft an meine damaligen Mitschüler und Mitschülerinnen, fast alle blieben wir Jahre in Kontakt, unabhängig davon, wo wir lebten. Nun habe ich meine Erinnerungen an diese besondere Klasse aufgeschrieben.
RUTH
Unsere älteste Mitschülerin war Ruth. Sie war bereits in der Maturaklasse, als sie aus der Schule ausgeschlossen wurde. Eine schöne junge Frau, die strotzte vor Energie. Wenn sie nicht lachte, lächelte sie. Manchmal fehlte sie in der Schule, dann brachte ich ihr meine Schulhefte mit Notizen über den Inhalt der Stunden – es gab damals noch keine Lehrbücher. Ruth war krank. Wir sprachen nicht oft über die Vergangenheit. Es war die Gegenwart, diese wunderbare Zeit, in der alles wieder gut war, die wir bewusst genossen. Ruth wusste, dass es angebracht wäre, mir ihre Krankheit zu erklären, so sagte sie nebenbei, sie habe sich lange Zeit in einer feuchten Souterrainwohnung vor einer Deportation versteckt und sei an Tuberkulose erkrankt. Jetzt aber sei ihre Heilung auf gutem Wege, sie müsse sich nur öfters ausruhen. Als ich später über ihre Lebensphilosophie nachdachte, kam ich zum Schluss, dass sie sich mit aller Kraft gegen diese Ungerechtigkeit gewehrt haben musste, um mit Würde zu überleben. Und da sie die ganze Welt dafür verantwortlich machte, fühlte sie sich berechtigt, ohne Skrupel zu nehmen, was sie wollte – um ein sorgloses Leben zu geniessen. Ich hatte Ruth sehr gern, wir blieben in Kontakt, wenn auch mit längeren Unterbrüchen. Sie besuchte uns oft und brachte immer ein paar Sonnenstrahlen in unseren grauen Alltag. Schön sah sie aus, erzählte von ihrem roten Cabrio, mit dem sie in die Ferien ans Meer gefahren war, über ihre Arbeit als Englisch-Privatlehrerin, über ihre neue Wohnung. In der Ära des realen Sozialismus konnte sich die Nomenklatura solchen Luxus leisten, Parteifunktionäre auf wichtigen politischen und wirtschaftlichen Posten und Personen, die mit ihnen liiert waren. Es war klar, in welche Gruppe Ruth gehörte. Dafür musste sie sämtliche moralischen Prinzipien und Hemmungen verwerfen. Ruth half mir mehrmals, als ich in Schwierigkeiten war. Als sie erfuhr, dass mein Vater erkrankt war und ich meine Eltern unterstützen musste, vermittelte sie mir gut bezahlte Unterrichtsstunden im Internationalen Studentenverband. Da ich bereits viele Jahre nebenberuflich Englisch unterrichtet hatte, war das kein Problem. Nachdem ich den Vertrag unterschrieben hatte, teilte sie mir mit, dass ich Französisch unterrichten werde, was sicher kein Problem für mich sei, man müsse die Dinge einfach pragmatisch angehen. Sie hatte recht. Ich war immer eine oder zwei Lektionen voraus – und am Ende des Schuljahres war mein Französisch fast perfekt. Und meine Schülerinnen und Schüler waren in der Lage, Vorträge auf Französisch zu halten. Nach vielen Jahren riefen mich die ehemaligen Mitschüler während einer Klassenzusammenkunft an. Den Kontakt hatte mein Vater vermittelte, der zu jener Zeit im Spital lag. Ruth fragte, weshalb ich nicht nach Prag käme; ich sagte ihr, dass ich kein Visum bekäme, da meine Ausbürgerung immer noch nicht genehmigt sei. Kein Problem, sagte sie, sie kenne die richtigen Leute, das Visum werde umgehend erteilt. So war es auch. Ich besuchte Ruth in ihrer Villa mit prächtigem Garten, wo sie ihre Mutter bis zu deren Tod pflegte. Ruth und ihr Mann besuchten auch uns für ein paar gemeinsame Tage. Zu meiner Enttäuschung realisierte ich bei dieser Gelegenheit, dass sie zwar grosszügig Hilfe leistete, aber auch skrupellos Forderungen stellte. Wahrscheinlich handelte sie konsequent nach ihremMotto, mit Recht zu nehmen, was sie wollte – ohne Berücksichtigung freundschaftlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Normen. Dazu gehörte auch ihre später publizierte Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit.
JOHNNY
Er war unbestritten weit und breit der attraktivste junge Mann. Aber nicht nur das. Seine blauen Augen strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Auf den Johnny konnte man sich verlassen: immer verständnisvoll, immer zuverlässig. Genauso wie sein Vater. Ein schönes, intaktes Zuhause hatte er. Die Mutter besorgte den Haushalt und achtete darauf, dass es den beiden Männern an nichts fehlte. Der Vater war Vorarbeiter in einer nahe gelegenen Fabrik. Nur fünf Minuten brauchte er, um pünktlich zur Mittagszeit mit der Familie am Tisch zu sitzen. So lebten sie glücklich in ihrer kleinen Wohnung, und fanden sogar noch Platz für ein Klavier, das sich Johnny so sehr wünschte. Es war das Klavier, dass mich zu einem Besuch zu ihnen brachte. Als ich braungebräunt aus den Skiferien in unsere Klasse zurückkehrte, wusste ich sofort, dass das Schreckliche, das Unbegreifliche passiert war. Johnnys Mutter ist nach kurzer Krankheit gestorben. Für die beiden Männer brach die Welt zusammen. Und Johnny bat mich, zu ihnen zu kommen und das Lieblingslied seiner Mutter für seinen Vater und für ihn auf Klavier zu spielen. Beide weinten ungehemmt in tiefer, auswegloser Trauer. Aber das Leben gehr weiter, das wussten beide. Das erste Weihnachtsfest feierten sie zu zweit, an den folgenden sollte eine verwitwete Cousine der seligen Mutter dabei sein, eine gute Frau, die ihnen mit dem Haushalt half. Obwohl Johnny verständnisvoll war, wollte und konnte er sich nicht damit abfinden. Er schlug alle Einladungen aus und fuhr weg, irgendwohin, um allein zu sein. Nach der Matura immatrikulierte sich Johnny auf der Philosophischen Fakultät für die Fächer Englisch und Weltliteratur. Im zweiten Schuljahr kam der kommunistische Umsturz und mit ihm die berüchtigten Säuberungsaktionen. Für Johnny war es klar – er stammte aus der Arbeiterklasse, das war Grund genug, um sicher zu sein, sodass es für ihn nur eine Formsache war. Unsere Mitschülerin Hanna führte das Sondierungsgespräch. Als sie ihn fragte, worüber die Parteizeitung auf erster Seite berichtete, antwortete er mit unschuldiger Miene, er lese nur die letzte Seite über Sport. Mit Hinsicht auf seine Herkunft wurde er nicht aus der Uni ausgeschlossen, sondern für ein Jahr als Lehrer in ein verlassenes Dorf an der Landesgrenze geschickt. Und so kam es, dass seine Schüler eines Tages allein von einem Schulausflug in der verbotenen Grenzzone zurückkehrten. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in Bayern kam Johnny nach Paris, wo er dank eines Stipendiums die Zeit bis zur Erteilung eines Visums nach Kanada verbrachte. In Kanada spielte er anfangs Klavier in Bars, später konnte er in den USA studieren und erwarb ein Diplom als Bibliothekar. Irgendwann heiratete er die Eileen. Sie war ihm zu Beginn in Kanada eine grosse Stütze, das vergass er nie – und er unterstützte sie bis zu seinem Tod. Eileen kehrte zurück in ihre Heimat nach Schottland und Johnny bekam eine Stelle als Bibliothekar bei der US Army. Er führte ein abenteuerliches Leben auf den Luftbasen auf Okinawa, in Libyen und in Ramstein. Kaum jemand stand mir so nahe wie Johnny. Er war immer für mich da. Obwohl ich mich, wenn immer ich eine neue Beziehung eingehen wollte, brieflich von ihm verabschiedet hatte, kümmerte er sich um mich und tröstete mich, wenn die Verbindung in Brüche ging. Ich habe viele Erinnerungen an ihn aus der Studienzeit. Einmal verlor ich eine Wette und musste mit ihm eine lange, allerdings wunderschöne Wanderung machen. Wir wanderten bei strahlendem Sonnenschein am Flussufer gegen den Strom bis zum Schloss Zbraslav. Beim Rückweg ging alles gut, bis mir kurz vor dem Ziel die Füsse unerträglich weh taten, jeder Schritt war eine Qual. Ich zog die Schuhe aus, was auch nicht half. Johnny lächelte, nahm mich auf seine Arme und trug mich bis zum Tram. Johnny war auch bei uns zu Hause ein willkommener Gast. Meine Eltern schätzten ihn, wollten aber keinesfalls, dass ich mit ihm weggehe vor Abschluss meines Studiums. Also bin ich geblieben. Immerhin waren wir die ganzen zwanzig Jahre in Kontakt, entweder direkt oder über seinen Vater. Einmal, da war er noch in Kanada, schickte er mir in seinem Brief ein separates Blatt mit – eine Nachricht von meiner Freundin Iva. Ich freute mich riesig, es war so schön, dass wir uns wiedergefunden hatten. Wie das kam? Johnnys Frau Eileen war Coiffeuse, mehrere Kundinnen bediente sie bei ihnen zuhause. Johnny begleitete sie manchmal, einmal auch zu Iva. Die beiden kamen auf gemeinsame Bekannten zu sprechen, und Iva bat ihn, ein paar Zeilen seinem nächsten Brief an mich beizulegen. Als ich dann in die Schweiz kam, trafen Johnny und ich uns wieder. Es war wie früher, als lägen nicht zwanzig Jahre dazwischen. Er war in Deutschland stationiert, als Bibliothekar auf der Ramstein Air Base. Johnny wollte mir helfen, in der neuen Umgebung Fuss zu fassen, ebnete mir den Weg zum postgradualen Studium in den USA und war bereit, Kosten für eine Privatschule mit Internat für meine Tochter zu übernehmen. Nach reiflichem Überlegen entschloss ich mich jedoch, sein Angebot nicht anzunehmen und in der Schweiz zu bleiben. Unsere tiefe Freundschaft nahm deswegen keinen Schaden. Wir konnten uns bedenkenlos aufeinander verlassen, und unsere Partner akzeptierten diese besondere Beziehung. Wir trafen uns mehrmals im Jahr, in Zürich, in Saarbrücken, wo er nach seiner Pensionierung wohnte, oder wir verbrachten gemeinsam ein paar Tage an einem schönen Ort. Als seine Partnerin starb, fiel es ihm schwer, allein zu sein. Sein Optimismus und seine Lebensfreude gingen verloren. Er wurde krank und musste ins Spital. Er wollte nicht mehr leben. Das berichtete mir ein Bekannter von ihm, und es sei Johnnys grosser Wunsch, mich noch einmal zu sehen. Zusammen mit meinem Mann machte ich mich unverzüglich auf den Weg. Johnny hatte auf mich gewartet. Er konnte nur mit Mühe sprechen. So erzählte ich ihm Geschichten aus den alten Zeiten, streichelte seine Hand und freute mich, ihn glücklich lächeln zu sehen. Dann schloss er seine Augen für immer.