Kapitel 1
Aus: Peter Schneider, Facetten der Liebe
Kürzlich im Einkaufszentrum in Lugano. Ernst Zweifel an der Kasse. Seine Einkäufe auf dem Fliessband. Eine Kassiererin schiebt sie flink über einen Scanner. Er verstaut sie in Tagesrucksack und Einkaufstaschen. Kaum, dass er mit dem Tempo der Kassiererin mithalten kann. Bezahlen muss er auch. So viel Gleichzeitigkeit macht ihn nervös. Im Rücken spürt er die Ungeduld der Käuferschlange. Er verschüttet Münzen, mit denen das Fliessband davonläuft. Eine Stimme flüstert besänftigend: «Keine Hetze, ich kann warten.» Er wirft einen Blick zurück. Ein stupsnasiges Mädchen lächelt ihm zu. Die Stimme der Kassiererin fährt dazwischen. Zweifel versteht ihr Italienisch nicht. Dann versteht er doch: «Ja, die Supercard.» Er fingert sie aus dem Seitenfach seiner Geldbörse. Und wieder ist da die sanfte Stimme hinter ihm: «Lassen Sie sich Zeit, ich bin nicht in Eile.» Dieses Mädchen, dieses Stupsnäschen? «Ihr Geld» mahnt die Kassiererin unwirsch. Stimmt, sein Herausgeld, hätte er beinahe vergessen. Er wirft einen oberflächlichen Blick. Die Noten stimmen. Das Kleingeld kippt er unkontrolliert ins offene Portemonnaie. Und nein, den Kassenbon brauche er nicht. Auch keine Bollini, keine Rabattmarken. Woran erinnert ihn das stupsnasige Mädchen? Es will ihm nicht einfallen. Weshalb erinnert Zweifel das eine, wo so viel anderes vergessen ist? Ist sein Gedächtnis ein Speicher, eine Art Festplatte, einmal voll, ausserstande weitere Informationen aufzunehmen? Oder ist es eine Insel inmitten eines Ozeans steigenden Vergessens? Oft sind es Bilder, Gerüche, Musik, die seine Erinnerungen wachrufen. Er schultert seinen Tagesrucksack, wirft der Kassiererin ein «Buona giornata» zu. Dem Mädchen ein Lächeln. Es ist beschäftigt, Tomaten sorgfältig in den Einkaufskorb zu legen. Er schiebt seinen Einkaufswagen zur Rolltreppe, fährt in die Tiefgarage hinunter, platziert den Tagesrucksack und die Einkaufstaschen im Kofferraum. Den Einkaufswagen rollt er zurück. Die Tiefgarage speichert die Hitze vergangener Tage. Er trottet zum Auto zurück. Sein Hemd klebt am Rücken. Unter den Achseln wachsen Schweissflecken. Sein Atem flattert. In Gedanken ist er woanders. Mit einem Mal weiss er. Das Stupsnäschen! Evas Stupsnäschen. Genau! Das Mädchen erinnert ihn an Eva. Wie weit das zurückliegt. Wie lange das her ist. Wie alt mag er gewesen sein? Wie jung! Vielleicht sechzehn, siebzehn? Der Tanzkurs. Der Spiegelsaal. Die grell beleuchtete Tanzfläche. Helles Parkett. Die herausgeputzten Mädchen auf der langen Sitzbank. Sein Bangen, keines der Mädchen werde mit ihm tanzen wollen. Eva. Sie sass abseits, am Ende der Sitzbank, als gehöre sie nicht dazu. Ihre Knie züchtig zusammengerückt. Ihre Hände im Schoss. Sie tat überrascht. Später wird sie gestehen, wie sehr sie gehofft hatte, er meine sie. Sein Herz pochte, sein Atem stolperte. Es brauchte seine Verbeugung nicht, keine zum Tanz bittenden Worte. Sie verstand sofort. Sie legte ihr schwarzes Handtäschchen beiseite, stand auf, ging ihm voraus aufs Parkett. Was war sie schön! Im trägerlosen, schwarzen Kleid. Ihre sandbraune Haut. Ihr schulterlanges, kastanienbraunes Haar. Pupillen wie Obsidiane. Die grelle Stimme der Tanzlehrerin schreckte ihn: «Bewegung, meine Herren, Bewegung, wenn ich bitten darf.» Paare wirbelten im Dreivierteltakt. Er fand keinen Anfang. Setzte er an, war die Musik auf und davon. Für ihn war Tanzen Spiessrutenlaufen. «Darf ich?», flüsterte sie. Sie holte ihn in die Musik. Alles begann zu drehen. Alles verschwamm. Sie flatterten über den Tanzboden, zwei Flügel eines Schmetterlings. Wie glücklich er war! Fortan forderte er sie und nur sie zum Tanzen auf, und sie hatte Augen und nur für ihn. Sanfte, dunkle Augen. In ihren Tanzarmen fühlte er sich geborgen. War das nun Liebe? Endlich Liebe? Er sieht sie beide aus der grellen Spiegelwelt des Tanzsaales in die winterliche Abenddämmerung am See flüchten. Sieht die Parkbank, die Ligusterhecken, die ihre frische Liebe vor zudringlichen Passantenblicken abschirmt. Von gegenüber wirft das Ufer zitternde Reflexe farbiger Leuchtreklamen auf eine kabbelige Seefläche. Er sieht sie unbeholfene Küsse tauschen. Spürt die Kälte. Entsetzlich kalt war es! Nein, nein, nichts ist vergessen! Sie sitzen ineinander verknäult auf dieser Parkbank, wärmen sich gegenseitig. Evas unterkühltes Händchen sucht in seiner Manteltasche Wärme. Auch die Taschenlampe erinnert er, in deren Licht sie einander mit den Worten Pasternaks beglücken: «Und ihr Haar berührte das seine, ihre Tränen flossen mit den seinen zusammen. Lara teilte ihre Tränen mit ihm. Da verlor er vor Glück das Bewusstsein.» Die Worte Pasternaks treffen mitten in ihre Herzen. Seine Liebe zu Eva geht später in Brüche. Eines Tages lässt er sie sitzen. An einem Mittwoch, ja, das muss ein Mittwoch gewesen sein. An Mittwochen besuchen sie den Mittelschulfilmklub. Anders als an den vorangegangenen hält er ihr keinen Sitzplatz frei. Er beobachtet sie aus dem Dunkel eines Notausganges. Schaut zu, wie sie suchend den Mittelgang im Parterre auf und ab geht. Sieht Besorgnis auf ihrem Gesicht wachsen. Was ist sie hübsch in ihrer Verlorenheit! Ohne ein weiteres Mal sich umzublicken, strebt sie dem Ausgang zu, verlässt das Kino, verlässt sein Leben. Sie würden sich nie wieder begegnen. Kein Telefonbuch bringt sie zurück. Keine Internetsuche. Auch kein Zufall. Bereut er, Eva versetzt zu haben? Verspürt er Heimweh nach dieser ersten taufrischen Liebe? Er wird sich fragen, weshalb verschwand er wortlos aus Evas Leben? Eine Erklärung für sein verletzendes Verhalten nie finden. War es die Furcht vor Wiederholungen? Wollte er nicht wahrhaben, dass Liebe sich so abgegriffen anfühlen konnte? Wenn das Gleiche immer wieder und nur ein bisschen anders passiert? Die immer gleiche Parkbank, das ermüdende Händchenhalten, die zur Gewohnheit verkommenden Küsse. Fürchtete er den Trott, die Langeweile, die von einer in Ritualen erstickenden Beziehung ausginge? Ihn dürstete nach reiner, von keiner Realität verunstalteten Romantik.