Aus einem traumatischen Erlebnis entsteht ein Berufswunsch

Aus: Marianne Walter Egli, Prägungen tun weh

Mit meiner Biographie will ich einen Überblick über meine Kindheit und Jugend erhalten und verstehen, was all die negativen Erfahrungen für eine Ursache hatten und was sie mich lehren wollten.

Was entstand aus der Prägung der Kindheit, welche Verletzungen wurden mir zugeführt, was wiederholte sich, was wurde mir von den Vorfahren vererbt und was wollten die Krankheiten zum Ausdruck bringen? Was blockiert mich noch heute?

Nach meinem Wissen fängt die Prägung nicht erst nach der Geburt an, sondern schon einige Generationen vor unserer Zeugung. In unseren Genen und dem Charakter liegen die der Ahnen mit all ihren Vor- und Nachteilen. Bis zu sieben Generationen zurück tragen wir ihre genetischen Informationen ihrer unverarbeiteten Erlebnisse und ihrer Krankheiten. Sie lassen uns im Leben fühlen und handeln und beeinflussen unsere Gesundheit. Unsere Verhaltensweisen sind aus den bewussten, unbewussten und den erworbenen Verhaltensinformationen bestimmt. Im Leben erreichte ich meine wichtigen Ziele sehr unterschiedlich. Der Zeitfaktor war entweder zu früh, sehr viel später als gewünscht, oder ich musste einige Umwege in Kauf nehmen. Ich fragte mich oft, weshalb. […]

Ich gehe auf Entdeckungsreise während des Zeitraumes meiner Grosseltern bis zu meinem 20. Lebensjahr. Auf der Spurensuche erkenne ich, welche Erfahrungen mir gedient haben, weshalb auch Umwege und langsame Landstrassen sinnvoll sind und welche Auswirkungen die Prägungen für mich haben. Nichts passiert ohne Grund. Der Lebensplan, den wir in der geistigen Welt erstellten, will gelebt werden. Jede Situation will uns etwas aufzeigen, um daraus zu lernen. Manchmal brauchte ich viele Wiederholungen, bis mir bewusst wurde, was ich ändern musste.

Während ich mich mit meiner Geschichte auseinandersetze, kann weitere Heilung geschehen. Ich beleuchte die verdrängten und belastenden Themen und Glaubenssätze, lasse los, was noch belastet, ehre es, weil es meinem Wachstum gedient hat und will mir damit die Zukunft ebnen und meinen Nachkommen ein Leben ohne Altlasten ermöglichen. […]

Aus einem traumatischen Erlebnis entsteht ein Berufswunsch

Anfang 1963, ich war noch keine fünf Jahre alt, litt ich wiederholt an Halsschmerzen und Angina. Es wurde vom Hausarzt entschieden, dass die Mandeln operiert werden mussten. Die Mutter und Schwestern erklärten mir, dass ich ins Spital gehen müsse, wo mir die Mandeln im Hals rausgeschnitten würden. Dabei würde ich schlafen und nachher dürfte ich viel Glacé essen, was gut für den schmerzenden Hals sei. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, was mich erwarten würde, und verstand ihr Mitleid nicht.

Die Eltern brachten mich an dem besagten Tag ins Spital Niederbipp. Wir wurden von einer Kinderkrankenschwester empfangen und ins Kinderzimmer geführt. Ich musste mich ausziehen und den Pyjama anziehen. Neben meinem Bett lag Käthi. Sie war etwas älter als ich und hatte den Arm gebrochen. Sie hatte eine Klingel an ihrem Bettgalgen, ich nicht. Es waren noch weitere Kinder im Zimmer, aber ich kann mich nicht mehr an sie erinnern.

Am Morgen der Operation durfte ich kein Frühstück essen. Ich musste lange im Bett warten. Dann kam endlich eine Krankenschwester, die mich vorbereitete. Sie schickte mich auf die Toilette und zog mir den Pyjama aus und ein Spitalnachthemd an. Danach gab sie mir ein Medikament zum Schlafen. Irgendwann wurde ich geholt und ich erwachte, während sie mich im Bett durch die Korridore fuhren. Das sah richtig unheimlich aus. Die Lampen an den Decken, die Schatten, die das Licht warf, das Rumpeln der Räder und der Nachklang des Echos, das von den Wänden hallte. Ich bekam furchtbare Angst und fing an zu weinen. Ich fühlte mich hilflos und von allen verlassen.

Auf dem Operationstisch setzten sie eine Maske auf mein Gesicht und tropften eine furchtbar stinkende Flüssigkeit darauf. Es stank penetrant nach Gummi und anderem ekligen Zeug. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. «Atmen, tu atmen!», forderten sie mich auf. Bald darauf verlor ich mein Bewusstsein.

Abends erwachte ich mit starken Halsschmerzen. Im Dämmerzustand nahm ich wahr, wie die Kinderstunde auf Radio Beromünster lief. Etwas von Annebäbi Jowäger wurde gespielt. Also musste ca. 17.30 Uhr gewesen sein. Ich jammerte leise, um mich bemerkbar zu machen. Ich konnte nicht sprechen. Eine Klingel hatte ich nicht. Eine ältere Nonne kam zu mir und tröstete mich. Ich durfte etwas kalten Tee trinken und auf den Topf gehen. Vielleicht bekam ich noch etwas gegen die Halsschmerzen, dann schlief ich wieder ein.

Am nächsten Morgen brachten die Schwestern das Morgenessen ins Zimmer und stellten es auf den Tisch. Die Kinder durften aufstehen und essen, ich musste noch im Bett bleiben und warten. Nachdem alle gegessen hatten ausser ich, wurde das Geschirr abgeräumt und eine Schwester stellte fest, dass mein Frühstück nicht angerührt wurde. Sie schimpfte mit mir, weshalb ich nicht aufgestanden und gegessen hätte. Nun bekäme ich nichts mehr. Ich verstand gar nichts mehr und fühlte mich sehr traurig und ungerecht behandelt. Ich war nicht fähig, ihr die Sachlage zu erklären und mich zu wehren. Wenigstens kalten Tee kriegte ich.

Ich hatte Bettruhe und durfte noch nicht aufstehen. Wenn mich die Blase drückte, musste ich meiner Bettnachbarin Käthi sagen, dass sie für mich läuten soll. Eine Schwester kam und ich meldete ihr mein Bedürfnis. Ihre Antwort war: «Kannst du es nicht noch etwas verklemmen? Jetzt habe ich keine Zeit!» Ich wartete gezwungenermassen, bis es nicht mehr ging. Dann liess ich los und machte ins Bett. Nach gefühlter, langer Zeit forderte ich Käthi auf, nochmals zu läuten. Dann kam dieselbe Schwester, hob meine Decke an und sah was passiert war. Sie schimpfte, weshalb ich nicht habe warten können und holte eine andere Schwester, um das Bett frisch zu beziehen. Ich fühlte mich ungerecht behandelt. Diese Gefühle erlebte ich daheim auch, wenn mir Dinge verboten wurden und ich in meinen elementaren Bedürfnissen unterdrückt wurde.

Die versprochene Glacé zur Kühlung des Halses konnte ich nicht geniessen. Ich fand sie nicht gut und der Appetit fehlte auch. Als ich endlich aufstehen konnte, durfte ich in der Spielecke des Zimmers spielen. Schüchtern schaute ich die Spielsachen an und getraute mich kaum, etwas hervor zu nehmen. Ich war so eingeschüchtert von zu Hause, ja keine Unordnung zu machen, dass mich eine Krankenschwester mehrmals dazu aufmuntern musste. […]

Meine Familie durfte mich nur am Mittwoch und am Wochenende besuchen. Ich hatte Sehnsucht nach daheim, aber es wurde von den Krankenschwestern erwartet, tapfer zu sein und nicht zu weinen. Nach zwei Wochen wurde ich entlassen. Ich wollte mich anziehen, aber im Schrank waren keine Kleider und Schuhe. Ich bekam Angst, wie damals in Genf, in der Unterwäsche zum Auto gehen zu müssen und alle würden komisch schauen. Angstvoll wartete ich auf dem Bett, bis Mutter kam. Sie brachte zum Glück frische Kleider mit und sogar neue Winterschuhe.

Zu Hause löste sich all das angestaute Elend in mir. Ich weinte viel und lange ohne äusseren Grund, eine Woche lang. Mutter meinte, es seien die Nerven. Sie behandelte und pflegte mich fürsorglich, damit ich die vermisste Liebe wieder auftanken konnte. Sie fragte, was ich erlebt habe, wie die Schwestern mit mir umgegangen seien. Ich erzählte ihr die Erlebnisse. Sie fand, dass ich das sicher besser gemacht hätte und eine gute Krankenschwester wäre. Einfühlsamer und fürsorglicher. So, wie ich eine gute Puppenmutter war. Diese Erfahrung und die Einschätzung der Mutter legten den Samen für den späteren Berufswunsch. Langsam fing er an zu keimen und ich setzte mich immer mehr damit auseinander, wie es wäre, Kinderkrankenschwester zu werden.

Während der Schulzeit hatte ich Gelegenheit über diesen Beruf zu lesen. Ich kann mich noch an das SJW-Heftli vom «Urwalddoktor» Albert Schweizer in Lambaréné erinnern. Oder an ein Buch über die Geschichte einer Nachtschwester. So fing ich an, mir diesen Beruf vorzustellen, und ich fragte in meinem Umfeld, was so eine Kinder- und Krankenschwester zu tun hatte. Alle waren beeindruckt, dass ich schon so früh wusste, welchen Weg ich einschlagen wollte. Dieser Berufswunsch blieb und ich verfolgte ihn strebsam, mit vielen Umwegen und Hindernissen.

Das Erlebnis Spital hinterliess bei mir einen nachhaltigen Eindruck. Ich wusste mir nicht zu helfen, als meine elementaren Bedürfnisse missachtet wurden. Ich war zu klein, um für mich einzustehen und war gewohnt zu gehorchen. Ich vermisste die Fürsorge meiner Familie. Ich schluckte alles, weil ich ja brav sein musste und keine Konsequenzen riskieren wollte.

Erkenntnisse

[…] Habe ich Worte hinuntergeschluckt, anstatt die Wut herauszulassen, die mich aufwühlte? Es kann sein, dass ich mir unbewusst gesagt habe, dass ich lieber den Mund halte, statt alles herauszulassen, was ich auf dem Herzen habe, sonst riskiere ich schwere Konsequenzen, wie Schläge oder kritische Zurechtweisungen.

«Mandelentzündungen können Ausdruck einer grossen Angst sein. Angst vor einem Elternteil, vor einem Lehrer oder Angst, es nicht zu schaffen. Wir können das auch auf eine Situation beziehen, die uns Angst macht oder uns zu ersticken droht oder der wir uns schutzlos ausgeliefert fühlen, was bei uns Wut auslösen kann. Empfinde ich grosse Angst gegenüber einer Person, die mir Angst macht und der ich mich hilflos ausgeliefert fühle?» (Metamedizin, Claudia Rainville, Verlag Silberschnur, 2007)

Darin erkenne ich die Auswirkungen der eingrenzenden Erziehung. Hilf- und machtlos war ich dem ausgeliefert. Dies erlebte ich über Jahrzehnte in verschiedenen Situationen meines Lebens. Erst als ich erkannt hatte, dass es mir diente, Stärke zu entwickeln, und mich auffordern wollte, meine Grenzen zu erkennen und zu setzen, konnte ich beginnen, es schichtweise aufzulösen. Ich legte den Schwerpunkt auf die Entwicklung der Kommunikation und der Erlangung von Klarheit. Durch die Medialität kam ich mit meinem inneren Selbst wieder in Kontakt, stärkte die Intuition und strebte an, mich selbst zu werden. Ein authentisches Wesen, unabhängig von andern und deren Meinungen. Ich entwickelte die Weite in mir selbst.

 
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