Grossvater
Aus: Brigitte Allenspach, Das bin Ich!
Unser Zufluchtsort, unsere Insel war das Daheim von Grosi und Grossvater, wenn immer zuhause Chaos herrschte oder ich bei einem Streit zwischen den Eltern mir die Schuld an der Situation gab. Schliesslich mussten sie damals wegen mir heiraten – Kinderlogik halt. Wann immer so eine Situation war, gingen wir nach der Schule zu Grosi und Grossvater. Dort warteten bestimmt eine warme Milch und eine Umarmung, ein tröstendes oder lobendes Wort sowie ein Jodellied von Grossvater.
Wie oft sass ich in seiner «Buddick» (Berndeutsch für eine Werkstatt) und sah ihm beim Schuhe-Flicken zu, atmete den Geruch des speziellen Leimes und des Leders ein, ein Geruch, den ich überall und jederzeit wiedererkennen würde. Auch bei seiner Arbeit sang und jodelte er, aber eines mochte er nicht: wenn ich ihm die Nägel und «Tricouni» durcheinanderbrachte. Er erzählte oft aus seinem Leben und ich liebte es, ihm zuzuhören. Zu erfahren, wie das Leben vor vielen Jahren war, fand ich äusserst spannend.
Es war interessant in der Werkstatt. Da kamen Leute vorbei, die Schuhe zum Flicken brachten oder abholten. Immer wurde auch über das Neueste im Dorf oder in der Politik geredet.
Da wurde Leder zugeschnitten und gespalten, da wurden alte Sohlen oder Absätze entfernt und neue angepasst und aufgeklebt. Wenn jemand neue Schuhe bestellte, mussten zuerst die Füsse gemessen werden, dann wurde das passende Leder ausgesucht. Auch das Futterleder wurde ausgesucht und dann beides zugeschnitten. Alles wurde auf einen passenden Leisten gespannt und dann geklebt und genäht. Die Innensohle wurde montiert und darauf die Sohle und der Absatz. Alles wurde in Form geschliffen und vernäht, zum Teil von Hand.
Grossvater hatte einen festen Tagesablauf: aufstehen, frühstücken, die Werkstatt öffnen, um 9 Uhr zum Znüni in die Wohnung zu kommen. Um 12 Uhr gab es Mittagessen und um 12.30 Uhr kamen die Nachrichten im Radio und da hatte es in der Wohnung mucksmäuschenstill zu sein. Das war die Tageszeit, an der man das Neueste aus aller Welt in die Wohnung geliefert bekam, dann war man wieder auf dem neuesten Stand. Nachher legte er sich auf das «Cutschi» (Sofa) in der Küche und wenn der «Regulator» 13 Uhr schlug, ging er wieder in der Werkstatt. Um 15 Uhr kam er zum Zvieri und um 17.30 Uhr machte er Feierabend.
Zur Entspannung ging er dann oft noch in den Garten, oder im Winter nahm er die Langlaufski und drehte ein paar Runden, direkt vor der Haustüre. Einmal pro Woche sangen er und Grosi im gemischten Chor, wie auch Mama und die halbe Verwandtschaft.
Für mich war er eine Respektsperson, ihm vertraute ich bedingungslos. Er erklärte mir die Welt und brachte mir bei, dass Erfahrungen wichtig sind. Dass man durch Erfahrungen klug wird, und so das Leben einfacher wird mit den Jahren. Er erklärte immer alles in einfachen Worten. Seine Ratschläge klingen noch oft in mir nach und halfen und helfen mir im Leben in vielen Situationen. Er lehrte mich auch, vor älteren Personen Respekt zu haben, ihnen zuzuhören, denn von ihnen kann man sehr viel lernen. Ich habe so viel von ihm gelernt und bin sehr dankbar dafür, dass ich so einen Grossvater hatte.
Ich glaube, er war ein zutiefst zufriedener Mann. Er hatte ein liebe Frau, Kinder, die wohlgeraten waren, Enkel, an denen er sich sehr erfreute, und er war selbstständig, war im Gemeinde- und im Schulrat und dadurch «jemand» in der Gemeinde. Davon hatte der arme Bub, der bereits mit 12 Jahren in der Weberei im Zürcher Oberland hart arbeiten musste, geträumt.
Und das ist nochmal eine ganz andere Geschichte, die er mir im hohen Alter auch noch auf Band erzählte. Vielleicht später einmal Stoff für ein Buch.