Gedichte von Lotti Kofler

Aus: Lotti Kofler, Jetzt – 2018


Das Buch habe ich in Form eines Alphabets geschrieben. Zu jedem Buchstaben mindestens ein Kapitel. Es entstand nicht ein chronologischer Rückblick, sondern ganz verschiedene Einblicke in mein Leben. Der Titel «Jetzt – 2018» bedeutet, dass die Beiträge nur gerade jetzt so entstehen konnten. 


P P P … Poesie

Ein kostbarer Besitz in meiner Primarschulzeit hiess Poesiealbum. Das erste Album hatte einen Überzug aus Stoff. Das Design des Stoffs war echt Fünfzigerjahre: olivgrüne, grosse stilisierte Blätter mit roten und gelben Farbklecksen auf weissem Grund. Ich sehe das Muster noch deutlich vor mir und finde es heute alles andere als verlockend. Vermutlich hat es mir damals gefallen. Das Sammeln der Einträge, Zeichnungen und Gedichte war eine immer wieder von Überraschungen geprägte Unternehmung.

Die physischen Zeitzeugnisse sind längst entsorgt und der einzige Eintrag, an den ich mich erinnere, heisst: «Hab Sonne im Herzen / und Zwiebeln im Bauch / Dann bist du stets fröhlich / und Luft hast du auch!»

Im Institut in Lucens hatte ich ein Tagebuch. Dieses gefiel mir nicht besonders. Schon die Farbe des Stoffes war nicht mein Favorit: ein blasses Helloliv. Was mich aber wirklich störte, war die unregelmässige Struktur im Stoff. Vielleicht war das damals Mode. Natürlich gab es auch ganz andere Alben: Mit farbigem Leder eingefasst und in goldfarbenen Lettern stand geschrieben: Poesie. Das hätte mir gefallen – allein schon wegen dem Goldglanz.

Das Wort Poesie hatte ich immer als «Pösie» – mit «ö» und das «i» und «e» als zwei Buchstaben – gelesen. Erst als ich einmal mit meiner Mutter über das «Pösiealbum» sprach, wurde ich korrigiert. Diese Korrektur traf mich aus heiterem Himmel, und ich hatte augenblicklich das Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben: Die Pösie hiess nun ganz vornehm «Poesie». Fremdartig, ja Respekt erheischend klang meine geliebte Pösie. Alles Lustige und Verspielte war entschwunden. Der Verlust dieses – meines – Wortes betrübte mich sehr. Das obige Erlebnis kam mir in den Sinn, als ich mich entschloss, unter «Poesie» ein paar Gedichte beizufügen.

BEIM ÖFFNEN DES FENSTERS AM MORGEN

KALTE NACHTLUFT UMSPÜLT WINTERLICHE STILLE
VERGESSEN BLEIBT ALLER VOGELGESANG
EIN EISIGER WIND KÜSST LETZTE ROSEN
STARR HÄNGT DER MEISENKNÖDEL AM DÜRREN AST

HÖRST DU DAS LACHEN DES TANZENDEN MONDES
HINTER SCHNEESCHWEREN WOLKEN?

NASSE ERDE

NASSE ERDE DUFTET
EIN WINDHAUCH HÜLLT
LICHTVOLLE DUNKELHEIT
UM ABSICHTSLOSES SEIN

LAUTMALEN

FARBKLÄNGE LOTEN STILLE AUS
EINEM BUNTEN SPINNENNETZ GLEICH
UMWERBEN WAS IST

KLINGENDE FARBEN
IM SCHWIRRENDEN TANZ UNSICHTBARER ENERGIEN
TROTZ WINDSTILLE
TROTZ DUNKELHEIT

KEINE VERNEINUNG KANN DIESE ENERGETISCHE HOCHZEIT BEENDEN
EIN HAUCH NUR –
WAR ES ROSA ODER ZARTGRÜN?

SILBERN ENTSCHWINDET ER
DER EINE KLANG DER GROSSEN STILLE

 

E E E … Erdbeben

Erdbeben Braunwald, 6. März 2017, nahe des Ortsstock, ca. 4 km westlich von Linthal GL, Zeit 21.12 h, Stärke 4,6 Richterskala, in einer Tiefe von 5 km, ein Dutzend Nachbeben in den ersten zwei Stunden nach dem Beben.


ERDBEBEN

IN GRUNDFESTEN ERSCHÜTTERT
SINKT GEWOHNTER BODEN WEG
FÜR FRAGEN BLEIBT KEINE ZEIT
ALLES WIRD BEDEUTUNGSLOS
UNWIRKLICH
FRAGIL

OHNE GEWICHT
IM SCHWEBENDEN RAUM
ABSTRAKTE WIRKLICHKEIT
NEUE ERFAHRUNG

EINE UNBEKANNTE MACHT ERGREIFT MEIN SEIN
ICH LIEGE DA UND LASS GESCHEHEN –
EIN ERDBEBEN?

IST ES DIE ERDE, WELCHE SICH ZU ERKENNEN GIBT?
SICH ZU WORT MELDET –
AUCH WENN DAS WORT MIR NICHT HÖRBAR IST?

ZWEI STÖSSE NUR –
UND DOCH:
GRUNDFEST ERSCHÜTTERT LIEGE ICH DA –
ERKENNE EINDRINGLICH DIE ENDLICHKEIT MEINES HIERSEINS
BLITZHAFTE KÜRZE EINES MENSCHENLEBENS
IM GIGANTISCHEN GEWEBE DES EINEN

DES GEHEIMNISVOLLEN UNBEKANNTEN

UNBEDEUTEND UND DOCH WICHTIG
VERUNSICHERT ABER GEBORGEN
VON NIMMER ENDENDER LIEBE UMHÜLLT

SIE IST ES, DIE MICH TRÄGT
DIE IMMER WIEDER SPÜRBAR UND GANZ LEISE
ABER STETIG MICH BEGLEITET
AUF DIESER REISE NAMENS LEBEN
DURCH ZEIT UND RAUM

BIS DASS ANDERE, UNBEKANNTE DIMENSIONEN
IHRE TORE WEIT ÖFFNEN

MICH EMPFANGEN –
IM WIEDERERKENNEN DES LICHTS

KEINE ANGST ZEIGT SICH

ES BLEIBEN STAUNEN, DANKBARKEIT UND FREUDE!

 
GGG … Geburtstage 


DER GEBURTSTAG

Der Himmel weint.
Grauer Morgen in einer grossen Stadt.
Gedämpfte Schritte – eingehüllt in feinem Nieselregen.
Auch der Verkehrslärm scheint leiser.
Ein Schleier hat sich über die Stadt gelegt.
Ganz weich und feucht streicht der Wind um ihr Gesicht.

Fünfzig wird sie heute.
Was für ein magisches Datum. Ein halbes Jahrhundert.
Lachen und Weinen teilen sich ihr Herz.
Was hat sie sich alles vorgenommen im bisherigen Leben und was hat sich erfüllt?
Was hat sie sich erfüllen lassen?
Eine ganze Menge, denkt Dorothea dankbar.
Der trübe Tag bringt ihr in Erinnerung, dass die strahlende Sonne und der blaue Himmel immer über den Wolken sind.
Wie ein Mantra summend wiederholt sie im Gehen: «Immer scheint die Sonne. Ob ich sie sehe oder nicht.»
Plötzlich – ihrer innern Stimme gehorchend – lenkt sie ihren Schritt in Richtung eines Museums. Dieses beherbergt zwar Altertümer – nicht eben Dorotheas Lieblingsexponate. Trotzdem: Heute will sie sich dort umschauen. Wieso zieht es sie da hin?
Schon am Eingang wartet eine Überraschung:
Eine kleine, aber feine Ausstellung zeitgenössischer Kunst ist in der Halle aufgebaut. Sonderausstellung.
Extra für sie?
Ansonsten liebt sie vor allem das Gebäude: ein ehemaliges Kloster mit wunderhübschem Garten im geräumigen Innenhof.
Kurz ist ihr Besuch der übrigen Räume. Denn ihr eindeutiges Ziel ist das Museumskaffee.
Beim Eintreten in den luftigen und gemütlichen Raum stockt ihr der Atem:
Keine Menschenseele ist im Raum, aber es duftet nach Kuchen.
Auf dem Buffet steht ein weiss gepuderter Gugelhopf. Daneben brennen fünf Kerzen. Wie ist das möglich? Niemand kennt sie hier und doch ist alles parat wie für einen Geburtstagskaffee. Tränen der Rührung steigen in ihr auf. Verlegen schaut sie in den Garten. Da erblickt sie eine dunkelrote Rose, welche von der üppig überwucherten Aussenwand vorwitzig durchs Fenster hineinschaut. Sie scheint ihr zuzurufen:
«Alles Gute zum Geburtstag! Geniesse den Tag und lass dich weiter durch dein Leben führen.»
Überglücklich und frisch gestärkt verlässt sie den stillen Ort. Gross ist ihre Vorfreude auf das Fest am Abend.

 
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«Käfer Josephine» und Elisabeths Barfussweg

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Ich wiegte mich im Gefühl, daheim zu sein