Lausanne

Aus: Katharina Baumberger-Jordi, Ent-Wicklung

Während Mutters Krankheitszeit war in mir der Wunsch gereift, mich als Krankenschwester ausbilden zu lassen. Sicher spielte bei dieser Entscheidung auch meine Tante Lydia eine Rolle. Ich bewarb mich infolgedessen in der Schwesternschule Neumünster auf dem Zollikerberg für eine damals noch drei Jahre dauernde Lehrstelle. Meine Freude war gross, als meine Bewerbung angenommen wurde. Eine Bedingung vor Beginn der Ausbildung war, während eines halben Jahres als Schwesternhilfe ein Spitalpraktikum zu absolvieren. Meine Wahl fiel auf die Clinique Cecil, einer Privatklinik in Lausanne. Sie war mir bekannt durch eine meiner Cousinen, die dort kurze Zeit zuvor ebenfalls als aide infirmière gearbeitet hatte. Während meines Aufenthaltes wollte ich auch mein Schulfranzösisch verbessern und erweitern.

Mit meinen achtzehn Jahren war ich erstmals richtig weg von zu Hause. Zu Beginn plagte mich grosses Heimweh. Wie sehr vermisste ich das Rauschen der Suhre in der Stille der Nacht, dazu auch meine ganze vertraute Umgebung. Trotzdem war es richtig und gut für mich, erstmals in einer relativ grossen Distanz von zu Hause zu sein. Es ermöglichte mir, mich für diese sechs Monate aus dem belasteten Familiengefüge herauszulösen.

Es dauerte nicht lange, bis ich meine neue Freiheit zu geniessen begann! Freie Tage zu haben, tun und lassen zu können, was ich gerade mochte, war ganz wunderbar und neu für mich. Zu Hause gab es immer etwas zu erledigen – und für die Eltern unterstützend da zu sein. Alles hier war neu, auch mein Lebensgefühl! Gleichzeitig mit mir arbeiteten einige junge gleichaltrige Frauen in der Clinique. Wie auch ich waren sie hier, die Realität und Abläufe eines Akutspitales kennenzulernen. Wir waren eine gute Truppe und verstanden uns. Drückte einmal irgendwo der Schuh, fand sich immer jemand für ein Gespräch. Auch zusammen lachen konnten wir, manchmal weinen.

Die diplomierten Schwestern stammten aus verschiedensten Ländern. Ich, das Mädchen aus Schöftland, spürte nicht zuletzt durch sie zum ersten Mal den Wind der grossen weiten Welt um die Nase wehen. Mit einer der Schwestern, Mademoiselle Tascon, einer jungen Frau aus Spanien, arbeitete ich besonders gerne. Auch in der Freizeit nahm sie mich öfters unter ihre Fittiche. Einmal durfte ich sie zu einem Konzert von Gilbert Bécaud begleiten, meinem ersten Live-Konzert. Welch ein Highlight – welch ein Glück! Hatten wir beide dieselben freien Tage, war ich oft auch bei ihren Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung mit dabei. Leider verlor sich unser Kontakt mit meinem Weggehen. Auch an Madame Besson erinnere ich mich gerne. Trotzdem sie mir mit ihrer Strenge und Korrektheit grossen Respekt einflösste, erlebte ich sie mir gegenüber liebevoll und interessiert. In besonderen Momenten nannte sie mich: «Ma petite Suisse allemande», oder aber auch: «Ma petite naive», was wohl sehr genau auf mich zutraf.

Wir aides infirmières entdeckten den abendlichen Ausgang in die Stadt. Wir liebten es, zusammen tanzen oder ins Kino zu gehen, oder auch durch Ouchy zu flanieren. Meine freien Tage im Sommer verbrachte ich am liebsten am See, lesend, in den Tag träumend, oder dabei, über Aktuelles mit meinen Kolleginnen zu sprechen. Ich entdeckte auch die Schönheit des Alleinseins, der Stille nach all den betriebsamen Arbeitstagen. Das half, Erlebtes zu reflektie- ren und etwas Ordnung in Kopf und Seele zu bringen – und um durchzuatmen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich niemandem verpflichtet ausser mir selbst. Zum ersten Mal auch hatte ich manchmal ein Gefühl, als wüchsen mir Flügel, wo ich vorher doch so er- denschwer war.

Es gab auch Momente, in denen mich ein bisher unbekannter Übermut packte. Zum Beispiel dann, wenn wir mal wieder zu spät vom Ausgang in die Clinique zurückkehrten, in der wir alle untergebracht waren. Der diensthabende Nachtportier hatte den Auftrag, uns bei der Directrice zu melden, wären wir nicht rechtzeitig um 22.00 wieder zurück. Unseres Erachtens aber war das viel zu früh! So läuteten wir einige Male mit grosser Verspätung am Entrée und baten um Einlass. Natürlich fürchteten wir die Konsequenzen, die unser Ungehorsam unwei- gerlich nach sich ziehen würde. Der Nachtportier aber wusste Rat. Sein Vorschlag war, wenn eine von uns ihm jeweils einen Kuss schenken würde, wäre alles in Ordnung, er würde dann dicht halten, uns nicht verpetzen. Wunderbar! Wer aber würde ihm einen Kuss geben wol len? Kein Problem, fand ich, küsste ihn herzhaft auf die Wange – und wir alle waren, bis zu unserer nächsten Verspätung gerettet. Der Portier hielt sein Versprechen und verriet uns nie.

Wie staunte ich über die Vielfalt der Patienten aus aller Welt! An einige kann ich mich noch heute zurückerinnern, entsprechend tief waren wohl die Eindrücke. Einmal trat ein indisches Ehepaar in die Clinique ein. Die ohnehin schon runde, besser gesagt, dicke Ehefrau war ange- meldet für eine «Mastkur». Ihr Mann begleitete sie, blieb auch während der ganzen Kur an ihrer Seite. Wir alle hatten grosses Mitleid mit ihr. Unfassbar, dass sie noch mehr Kilos zulegen sollte! Was wohl der Grund für diese Massnahme war? Ein Zeichen von Wohlstand in ihrer Kultur? Krass dabei aber war, dass sämtliche unserer schlanken Mitarbeiterinnen sich richtiggehend vor den begehrlichen Blicken des Ehemannes retten mussten. Welch ein Widerspruch! Hier muss ich jedoch beifügen, dass ich als aide infirmière nicht informiert war über Diagnosen, ergriffene Massnahmen oder Therapien.

Die Clinique war auch bekannt für ihre Schönheitsoperationen. Schauspieler und sonstige illustre Gäste und Patienten gingen ein und aus. Für spannende und interessante Momente war deshalb immer gesorgt! So wie aber in jedem Spital gab es auch viele traurige Schicksale, Not, Schmerzen und unbeantwortbare Fragen nach dem Warum.

Noch heute denke ich gerne an Lausanne zurück. Es war die Zeit und der Ort meiner ersten Schritte in die Selbständigkeit. Sie hatte den goldenen Schimmer von neu entdeckter Freiheit.

 
 
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Bikini in Rimini (1968)

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