Bravo und die Bee Gees

Aus: Silvia Müller, Mit offenen Augen

Mit offenen Augen – das sind Erinnerungen an eine ganz gewöhnliche Kindheit. Eine Kindheit und Jugendzeit, wie sie viele während der 50er- und 60er-Jahre erlebt haben. Und doch: Es sind meine persönlichen Geschichten und deshalb einmalig, wie jedes Leben! Was wäre, wenn wir mit offenen Augen und Sinnen durchs Leben gingen? Könnten wir die Einzelheiten erkennen, die sich später wie ein Puzzleteil in ein grosses Mosaik einfügen? In jedem Leben gibt es wohl kleine Momente, die – im Nachhinein betrachtet – Hinweise auf spätere Ereignisse enthalten. Die Lektüre regt an, den «roten Faden» in der eigenen Lebensgeschichte zu finden.

Das Mehrfamilienhaus, in welchem ihre beste Freundin, Marianne, mit ihren Eltern wohnte, war auch das Zuhause von Regula – einem Mädchen, das zwei Jahre älter war als Rita. Regula hatte zudem eine Schwester, die sogar vier Jahre älter war. Da lagen gefühlt mehrere Generationen dazwischen. Was diese Regula und ihre Schwester Hanni schon alles durften! Beispielsweise alleine in die Stadt, ins Kino oder abends natürlich viel länger wach bleiben. Klar, dass Marianne und Rita gerne ihre Freizeit bei den Grösseren verbrachten. Da gab es nicht nur ganz andere Gesprächsthemen sondern auch andere Lektüre: Liebesromane und die Bravo! Diese Bravo, von den Eltern schlichtweg verboten, hatte es Rita angetan. Filmstars und Musikgrössen zierten das Cover, ein gewisser Dr. Sommer erteilte Ratschläge zu allerhand offenen Fragen, welche den jungen Menschen am Herzen lagen. Da ging’s um das andere Geschlecht, um’s Küssen und mehr … manchmal sogar mit einem «unanständigen» Bildchen untermauert.

Dr. Sommer übernahm mit seinen Beiträgen die Aufklärung der Jugend und entlastete so die geplagten Eltern, die sich mit diesen Themen sehr schwertaten. Aufklärung passierte irgendwie, aber sicher nicht in einem offenen und vertrauensvollen Gespräch mit den Eltern. Über «solche Sachen» schwieg man am besten und überliess es – wie so vieles – der Schule, der Kirche oder dem Zufall. Rita und ihre Freundin freuten sich, bei den älteren Mädchen eine Ausgabe der Bravo zu erhaschen, und sie machten sich stets mit grossem Interesse und Wissbegier über die Hefte her. Rita und Marianne diskutierten Nachmittage lang mit Regula und Hanni und erfuhren dabei so einiges. Den Rest übernahm dann schliesslich der Pfarrer im Unterweisungsunterricht während des letzten Schuljahrs. Draussen unter einer Birke versammelt, erklärte er der versammelten Klasse mit Ruhe und Gelassenheit, worum es zwischen Mann und Frau so geht. Er war zum Glück selber noch jung, frisch verheiratet und sehr verliebt in seine Frau, also irgendwie näher am Thema dran als die Eltern, und natürlich war er weniger verklemmt. Zum Glück konnte Rita – dank der Beiträge von Dr. Sommer – bereits auf einen gewissen Erfahrungsschatz zurückblicken.

Doch die Bravo bestand nicht nur aus Artikeln aus der Feder von diesem Autor, der sich dann, wie erst viel später öffentlich wurde, als Frau Dr. Sommer entpuppte, die in Wirklichkeit jedoch nicht so hiess. Erfunden von der Redaktion, genauso wie in einem anderen Bereich später die legendäre Köchin der Nation: Betty Bossi.

Bravo, das war auch die Zeitschrift mit den Monats-Starschnitten. Da wurden Musikerinnen oder Musiker, die gerade ihre Höhenflüge hatten, in Lebensgrösse zum Ausschneiden abgebildet. Jeden Monat ein weiterer Teil, begonnen wurde natürlich bei den Füssen. Ein sehr cleveres Marketing, denn die Füsse und Beine, das waren definitiv nicht die attraktivsten Teile. Und so kaufte –  wer durfte – die Bravo jeden Monat, bis das Idol über dem Bett an der Wand hing. Rita, die sich nur ab und zu heimlich von ihrem Taschengeld, trotz elterlichem Verbot, eine Ausgabe der Bravo kaufte, oder nach Wochen eine Ausgabe aus der Papiersammlung fischte, war da natürlich im Nachteil. So würde sie nie stolze Besitzerin eines ganzen Starschnitts werden! Welch ein Drama – die Mutter liess sich auch mit Betteln und Tränen nicht erweichen. Und dann kam das Schlimmste: Im nächsten Monat begann ein neuer Mitschnitt - von Barry Gibb! Die Musik der Bee Gees, vor allem den Song «Massachussets», hörte Rita, wann immer sich ihr die Gelegenheit bot. Der Bandleader, Barry Gibb, in ihren Augen der schönste und attraktivste der Gibb-Brüder, ihr heimlicher Schwarm. Was hätte sie darum gegeben, ihn in voller Lebensgrösse über ihrem Bett hängen zu sehen. Doch leider blieb dies ein unerfüllter Wunsch. Die Liebe zu den Bee Gees und ihrer Musik jedoch, die hielt ein Leben lang.

Das Leben ging weiter, Rita fand sich damit ab, dass über ihrem Bett keine Musiker gingen, höchstens irgendeine Familie aus einem europäischen Königreich. Ihre Mutter kaufte ab und zu Zeitschriften, die aus dem Leben der «Königs» erzählten, und so war auch Rita über den Hochadel bestens im Bild. Manchmal stellte sie sich vor, wie das wäre, wenn eine dieser illustren Personen vom Bild herabsteigen und ihr Zimmer betreten würde … Das passierte natürlich auch nicht, regte aber ihre Fantasie an.

Regula und Hanni, die waren schon fast erwachsen und sie durften heimlich rauchen! Wau – der Glimmstängel in Regulas Hand machte in den Augen von Rita aus ihr eine richtige Frau. Klar, dass sie das auch selber ausprobieren wollte. An einem Ostermontag, die drei, Regula, Marianne und Rita, unternahmen eine Velotour, war es dann soweit! Bevor sie sich zu weit vom Dorf entfernt hätten, machten sie einen Umweg über den Bahnhof. Am Automaten konnten nicht nur Caramel Mou erstanden werden. Für fünfzig Rappen spuckte der Automat ein Päckchen Zigaretten der Marke «Virgine» aus. Das mitgeführte Picknick, um diese wertvolle Gabe ergänzt, machten sie sich auf den Weg, möglichst weit weg von zu Hause. Ausserhalb eines Nachbardorfs, an einem Waldrand, machten sie Halt, um zu picknicken. Die mitgebrachten Eier wurden «getütscht», mit viel Mayonnaise bestrichen und verzehrt, dem Schoggihasen die Ohren abgebissen und dann … Jede steckte sich ungelenk einen dieser begehrten Stengel zwischen die Lippen. Regula kramte Zündhölzer hervor und los ging das Abenteuer. Nicht ohne schlechtes Gewissen und stets auf der Hut, ob jemand vorbei käme, begannen sie zu paffen. Die Zigaretten schmeckten nicht wirklich, aber das Gefühl von Erwachsensein und nun definitiv dazu zu gehören, war unbezahlbar! Ob die Eltern wohl nach der Rückkehr etwas bemerkt oder gerochen haben? Jedenfalls fiel keine Bemerkung und die Gewohnheit mit dem versteckten Rauchen wurde weiter gepflegt.

Zunehmend mutiger, schlossen sich Regula und Rita einmal im Badezimmer der Wohnung von Regulas Eltern ein. Die Mutter war weg, ins Dorf, um Besorgungen zu machen. Die Gelegenheit günstig, die Luft rein. Vorsichtshalber öffneten sie das Fenster des Badezimmers, damit der Rauch nach draussen gelangen konnte. Unerwartet kam die Mutter nach Hause zurück, sie hatte das Portemonnaie vergessen und war auf halbem Weg umgekehrt. Gab das ein Donnerwetter! Sie war alles andere als erfreut und schimpfte mit den Mädchen. Rita war wie gelähmt vor Angst – was, wenn jetzt Regulas Mutter ihrer Mutter berichten würde, was die beiden getrieben hatten? Mit grosser Sorge machte Rita sich auf den Heimweg – in Erwartung einer Strafe. Doch diese blieb aus, auch am nächsten Tag machte Ritas Mutter keine Anstalten, mit ihrer Tochter zu schimpfen. Es vergingen weitere Tage, ohne dass etwas passiert wäre. Nach einer Woche schloss Rita daraus, dass die Mutter von Regula geschwiegen hatte. Ein Gefühl grosser Dankbarkeit breitete sich in ihr aus.

Viele Jahre später – der Zufall wollte es – lagen das Grab von Regulas Mutter und Ritas Vater auf dem Friedhof direkt nebeneinander. Jedes Mal, wenn Rita das Grab ihres Vaters besuchte, dankte sie innerlich der lieben Frau für ihr Schweigen.

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