Prolog & Wir schaukeln das
Aus: Fabienne Feuz, Fliegen lernen
Prolog
Der Februar hat dieses Jahr 29 Tage. Und obwohl die Entscheidung längst gefallen ist, warten wir den allerletzten Tag des Monats ab. Warum, wissen wir selber nicht so genau. Wollen wir es noch einmal überdenken, bereden, erklären? Haben wir nun plötzlich Angst vor dem Abenteuer und dem Ungewissen, das wir doch so lange gesucht haben? Machen wir nun im entscheidenden Moment plötzlich kehrt? Schliesslich, einen Tag vor dem ersten März 2020, kündigt mein Mann, mitten im Berufsleben, kurz vor Ausbruch der grossen Pandemie, seinen gut bezahlten und sicheren Job. Er drückt auf PAUSE. Einfach so. Uns und dem Leben wegen.
Wir haben schon lange von einer Familienauszeit geträumt und doch ist es eine spontane, gewagte, vielleicht naive und ja, etwas verrückte Entscheidung. Die kurzfristige Hochzeit einige Monate zuvor inspirierte uns zu einem ausgiebigen und reichhaltigen Honeymoon. Mit kleinen Kindern, einer eigenen Sprachschule, zwei Teilzeitjobs und hohen Fixkosten ist es aber sicher nicht das, was man hierzulande in dieser Lebensphase tut. Man denkt eher an den nächsten Karriereschritt. Oder kauft ein Haus. Investiert in die dritte Säule. Man erholt sich von einem Burnout oder steuert gerade auf eines zu. Man plant frühzeitig die Ski- und Sommerferien. Und man arbeitet viel und fleissig.
Eine richtige Auszeit kann man sich sowieso nie leisten und falls doch, so gilt es sich diese richtig zu verdienen. Wenn der Job gesichert, die Kinder grösser, das Geld angelegt und die Pension sorgfältig geplant ist. Dann vielleicht.
Wir wollen das Leben aber nicht auf später verschieben. Zu viele traurige Nachrichten haben Menschen in unserem nächsten Umfeld in den letzten Jahren erschüttert, als dass für uns dann vielleicht eine Option ist. Etwas kommt dazwischen. Zeit geht verloren. Unsere Buben sind klein und brauchen uns jetzt. Das Familienleben passiert in diesem Augenblick. Das gemeinsame Lernen, Erleben und Wachsen bedingt Raum, den wir uns allzu oft nicht nehmen.
Hier und heute. Gesund und stark. Mit offenen Herzen und viel Entdeckergeist; so wollen wir unsere Auszeit beginnen. Der Rest wird sich ergeben. Ein grosses Drehbuch haben wir nicht, denn dieses wird das Leben sowieso laufend neu für uns schreiben. Es gibt einen ganzen Sommer und Herbst, den einkehrenden Winter und vielleicht noch den neuen Frühling zum Gestalten und Sein. Raus in die Natur, mit den Jahreszeiten leben. Den Garten anpflanzen. Den Sommer empfangen. Die Holzschaukel einweihen. Von zuhause aus loswandern und müde heimkehren. Den Blumen und Kindern beim Gedeihen zusehen. Auf der Alp die Kühe besuchen, den neuen Grill einheizen und viele Feuer machen. Cowboy-campen und Yoga praktizieren. Viel tanzen und immer wieder gehen. Keinen Wecker stellen. Im Engadin verweilen und endlich Romanisch lernen. Einen Marathon rennen und das Klavierspielen wagen. Sowieso täglich Musik machen. Vielleicht ans Meer fahren oder gar in einen Flieger steigen. Bücher lesen und regelmässig schreiben. In den Herbstfarben baden. Kerzen anzünden und Schneemänner bauen. Viele Freunde sehen und uns Zeit nehmen für die grossen und kleinen Momente des Lebens. Innehalten. Etwas wagen. Ausbrechen und aufbrechen. Altes loslassen und Neuem entgegengehen. Hinfallen und aufstehen. Den Sprung wagen und darauf vertrauen, im freien Fall fliegen zu lernen.
Vor uns liegen unzählige leere Seiten, die es mit Geschichten zu füllen gilt. Von diesen Geschichten, von den kleinen und grossen Freuden, von Erkenntnissen, Sorgen und Schätzen entlang des Weges handelt dieses Buch. Es ist eine persönliche Erzählung, eine Ode an das einfache Leben, die ich für unsere Söhne niederschreibe. Vielleicht mögen sie diese Zeilen eines Tages lesen und werden bestärkt, stets verspielt, ein bisschen verrückt und neugierig zu bleiben. Und immer wieder die Flügel auszubreiten und abzuheben.
Bern, Frühling 2020
Wir schaukeln das
Massiv soll sie sein und gross genug für uns vier. Mit Platz zum Sitzen, Liegen, Essen, Dösen, Arbeiten und Tagträumen. Schwebend, versteht sich. Unser Nachbar und mein persönlicher Stararchitekt vollbringt mit seinen Händen das, was ich mir zuvor ausgemalt habe: Von der Skizze bis zum Aufhängen unserer Gartenschaukel dauert es ganze sieben Tage. Ich bin begeistert von seinem Geschick und freue mich, dass er meine Ungeduld erkannt und so schnell gearbeitet hat. Sowieso bin ich immer wieder voller Bewunderung für Leute, die vermeintlich alles bauen oder flicken können. In unserem Fall ist es womöglich ein Segen, nicht allzu viel Handwerkertalent zu haben. Mit meiner Fantasie für „schöner wohnen” würde ich uns womöglich mit unzähligen Bau- und Bastelvorhaben in den Wahnsinn treiben. Wir würden nur noch werken statt leben. Umso ehrfürchtiger nehmen wir diese Schaukel also in Empfang. Ihr Tannenholz ist noch ganz hell und duftet nach Wald. Sie ist perfekt. Sie ist massgeschneidert auf uns; auf unser Zuhause, auf unsere Familie und ja, auf unser Leben. Bald schon hängt sie und ich schwebe mit ihr sofort auf Wolke sieben. Rein mit den Kissen, Decken und Büchern. Hoch mit den Beinen. Von nun an schaukeln wir durch die letzten Frühlingstage, freuen uns auf den Sommer und starten in unsere lange Auszeit. Wir staunen über das Blühen in unserem Garten und ein kleines bisschen auch über uns selbst. Wir haben es getan. Wir haben losgelassen und sind losgelöst. Wir stürzen uns kopfüber in dieses Abenteuer und wissen selber nicht so genau, ob das nun wahnsinnig kühn oder vor allem cool ist. Wer kann das schon sagen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Von unseren Freunden erhalten wir zweifelsfrei mehr verwunderte als bewundernde Blicke. Wir sind trotzdem gerade ziemlich berauscht. Der Arbeitsalltag und das geregelte Leben haben sich mit der Frühlingseinkehr ganz sang- und klanglos verabschiedet. Einfach so. Als wäre es das Natürlichste der Welt. Gut möglich, dass es das auch ist.
Hier sitzen wir also zu viert in unserem neuen Leben mit einem eigentümlichen Gefühl der Vorfreude und Aufregung. Atmen warme Sommerluft und viel Lebenslust ein und aus. Gian Luca, der Ältere, will sich die Haare wachsen lassen, Leandro, unser Kleiner, ist nur noch barfuss unterwegs, mein Mann wechselt von Hemden zu Shirts und ich, ich kaufe mir bequeme Latzhosen. Unser Hippie-Leben hat begonnen. Gemeinsam schaukeln wir in den Sommer, beschwingt neuen Abenteuern entgegen.
Während unser Kleiner oben jeden Mittag sein Nickerchen hält, trinke ich auf diesem Plätzchen fortan ausgiebig Eiskaffee und lese unserem älteren Sohn Geschichten vor. Die Schaukel ist der ideale Platz zum Entspannen. Ganz besonders für Leute wie mich, die tagsüber nie zur Ruhe kommen und auch abends lange brauchen beim Einschlafen. Immer ein bisschen getrieben. Einfach nur dasitzen oder gar schlummern mitten am Tag: unmöglich. Nicht einmal kurz nach der Geburt mit zwei sehr kleinen Kindern, in einem neuen Haus mit grossem Garten, kurzen Nächten und stets allen Händen voll zu tun, wäre es mir jemals in den Sinn gekommen, mich hinzulegen. Auch nicht, als beide Buben ab und an auf wundersame Weise gleichzeitig schliefen, hätte ich einnicken können. Vielmehr verharrte ich in solchen Momenten in immer gleicher Position und getraute mich kaum zu atmen. Was ich alles hätte tun können in den kostbaren Minuten der Ruhe. Kaffee! Das war in jener Zeit stets mein erster Gedanke. Die Küche aufräumen oder mich und meine Haare ein bisschen herrichten. Die Zeitung lesen. Oder eben dösen. Meistens blieb ich aber einfach sitzen, schaute den beiden beim Schlafen zu und war mir der Kostbarkeit dieses Momentes absolut bewusst. Zwei schlafende Kinder mitten am Tag, während das Leben draussen pulsierte und die Erde sich drehte. Meine eigene kleine Welt stand dann einen Moment lang still.
Nun schaukle ich also von der Frühsommersonne geküsst durch den Mittag. Ich liege. Lese. Und ja, träume am helllichten Tag vor mich hin. Denke gelegentlich darüber nach, dass ich jetzt wirklich aufstehen sollte. Verwerfe es. Die Stimmen der Nachbarn und das Zwitschern der Vögel werden zu einem sanften Wiegelied. Trotz des Koffeins vom Eiskaffee und der unmöglichen Uhrzeit für Nicht-Tagesschläfer nicke ich ein und erwache erst eine Stunde später. Eine Stunde, einfach so, und das mitten in der Woche. Ich bin selig über dieses spontane und sorglose Abtauchen und überrascht über mich selbst. Kein schlechtes Gewissen. Ganz im Gegenteil; unverschämt schön. Das müsste ich viel öfters tun. Oder noch besser: Das werde ich viel öfters tun. Nicht ständig nur im Konjunktiv leben, auf Gepflogenheiten pfeifen und nicht immer vernünftig sein – das haben wir uns fest vorgenommen. Das Leben findet in genau diesem Moment statt. Das ist alles, was wir haben. Alles, was wir brauchen. Mal schauen also, wo das hinführt mit der Schaukel und mir. Dieses schwingende Möbelstück wird fortan zum Mittelpunkt unseres Gartenlebens. Wir trinken Wein, Kaffee und den Abendschoppen auf ihr. Wir teilen Geheimnisse, tauschen Geschichten oder erzählen Witze. Unsere Gäste steuern automatisch auf diesen Logenplatz zu. Und wer einmal sitzt, der steht so schnell nicht mehr auf. Bei grosser Sommerhitze schützen wir sie mit Sonnenschirmen und schaukeln weiter. Im Herbst werden wir sie öfters nachts abdecken und beim ersten Schnee kommen dann Felle und heisser Tee dazu. Sie ist zu jeder Jahreszeit perfekt und nichts als diese gemächlich schwingende Bank könnte unsere Lebensart in diesem Moment passender darstellen.
Der Frühling war warm, sonnig und hell und auch die ersten Junitage sind noch vielversprechend. Danach öffnet der Himmel sämtliche Schleusen und es hört erst gegen Ende des Monats wieder auf zu regnen.
Wir verbringen die erste Woche unserer Auszeit auf der Metschalp in einem einfachen, aber einladenden Häuschen von Freunden. Es gibt fliessendes Wasser und eine gute Toilette, aber es ist vor allem das Urtümliche und Einfache, das uns hier gefällt. Wir wollen aus unserer Komfortzone ausbrechen und in den kleinen Dingen das grosse Glück erkennen.
Über den Himmel jagen dunkle Wolkenmassen. Es regnet, stürmt und ist kalt, wattedicker Nebel zieht auf und trübt die Sicht. Die nahen Gipfel sind auch beim genauen Hinschauen nicht zu erkennen. Der Regen tropft auf das Dach, während sich die grünen Wiesen in braunen Schlamm verwandeln. Abgesehen von den zu leichten Sommerkleidern im Gepäck stört uns das verrückte Aprilwetter mitten im Juni bis jetzt noch nicht allzu sehr. Es scheint uns gar sagen zu wollen: „So ist es nun. Macht das Beste draus.” Wir werden die Kinder in alle möglichen Schichten hüllen und sie warmhalten. Es gilt flexibel zu bleiben und unkompliziert. Offen und anpassungsfähig. Tag für Tag. Darum geht es doch.
Die Buben laufen zwischen unseren Beinen herum. Das Häuschen ist klein und die Kinder wollen beschäftigt sein. Sie haben Hunger und Durst, sind müde, aufgedreht und sie frieren. Noch sucht jeder sein Plätzchen. Seine Zeit. Unser Älterer reibt sich gerade sehr mit uns. Er macht seit einigen Wochen eine anstrengende Phase durch. Er ruft ständig aus, flucht und ärgert sich über uns und die Welt. Er, der grosse Sonnenschein der Familie, verlangt uns plötzlich alles ab. Wenn mich die Zweifel übermannen, frage ich mich, ob es falsch war, so viel gemeinsame Zeit zu planen, ohne wirklich ausweichen zu können. Schadet es den Kindern, ständig mit genervten Eltern zu sein? Und wie genau hatten wir das mit der Komfortzone eigentlich angedacht?
Wir müssen den Ofen einheizen, damit wir uns nicht schon die erste Erkältung des Sommers holen. Vor dem Feuer rücken wir eng zusammen und schauen in die züngelnden Flammen. Das Knistern verströmt Gemütlichkeit und die Wärme umarmt uns sanft. Draussen ist es kalt. Einsam. Mystisch und schön. Sommerbeginn.
Das Feuer steigt auf, während sich die Nacht langsam über uns niedersenkt. Als die Buben endlich schlafen, koche ich Tee und zünde eine Kerze an. Wir atmen durch. Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, finden wir Zeit zum Sitzen, Rausschauen und Reden. Ich freue mich auf die erste Nacht in den Bergen. Je wilder die Berge um mich herum, desto aufgehobener fühle ich mich. Ein eigenartiges Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt. Gewissen Menschen steckt das Land oder der Ozean in den Knochen. Möglicherweise verhält es sich mit Bergen ähnlich. Vielleicht sind Berge angeboren. Das würde durchaus Sinn ergeben. Während wir hier sitzen, ist mein Vater gerade auf der Via Alpina unterwegs und überquert dabei einige der schönsten Alpenpässe der Schweiz. Auch mein Opa erklomm in jungen Jahren hohe und wilde Gipfel. Als er pensioniert wurde und ich gross genug war, unternahmen wir zu zweit viele Wanderungen. Während er mit seinen alten Landkarten die Touren sorgfältig plante, kümmerte sich meine Oma derweil um den Proviant. Ich freute mich immer schon vor dem Aufbruch auf die saftigen Sandwiches im Rucksack. Es waren wertvolle Momente zusammen. Wir haben viel geredet und genauso lange geschwiegen. Sind gewandert. Haben gestaunt. Und einmal waren wir zu dritt – mein Opa, mein Vater und ich – mehrere Tage mit einer Gruppe auf einer Hochgebirgstour unterwegs. Ich erinnere mich dabei vor allem an das garstige, nasskalte Wetter. An die feuchten Kleider, den eisigen Sturm im Gesicht und an die ausgesetzten Stellen. Es war windig, wild und weit. Mir boten diese schwierigen Verhältnisse aber das ideale Höhen- und Konditionstraining für ein geplantes Nepaltrekking einige Monate später. Als Küken der Gruppe war ich glücklicherweise bestens umsorgt. Meine nassen Schuhe durften besonders nahe an den Ofen, das Essen wurde mir stets zuerst serviert und der Bergführer prüfte gut, dass ich sicher an seinem Seil lief. Das war mir ganz recht so und ich fühlte mich dabei ein wenig wie die Queen of the Alps. Oder meinetwegen wie eine Bergprinzessin. Ein bisschen Komfort vor den anstrengenden Wochen im fernen und unbekannten Himalaya. Tatsächlich trugen mich diese Erfahrung und die getankte Kraft dann ein grosses Stück durch die rauen Täler und über die hohen Pässe in Nepal.
Mit der Geburt der Kinder wurden meine freien Tage weniger und unsere Touren kürzer. Aber mein Opa und ich, wir gehen auch heute gerne spazieren, wenn es denn seine Beine und meine Buben erlauben. Dabei denken wir an die vielen Gipfelmomente zurück. Und ich natürlich an die Sandwiches.
So sitzen Luca und ich nahe dieser hohen Berge, und allmählich entspannen wir uns ein bisschen. Ein erstes Aufatmen und Abtauchen in der Höhe. Ein Ankommen in unserem neuen Alltag, in unserem neuen Leben. Ich weiss gar nicht so genau, wie mir zumute ist. Wie mir zumute sein sollte. Ich bin freudig aufgeregt. Müde. Und auch etwas nervös. Übergänge, so sage ich mir, sind immer schwierig – aber wir werden das schon schaukeln.
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