Ihr Weg in die Psychose

Aus: Simone Fasnacht, Mein psychotisches Testament

Ich, Simone, wurde von meiner Psyche überrascht. In diesem Buch gebe ich Einblick in mein Denken, Fühlen und Handeln, welches in der Psychiatrie als schizoaffektiv gestört gilt. Ich erzähle von meinen manisch-psychotischen Reisen und denke über diese nach. Mit dem Ziel, das Nachdenken zu besänftigen. Denn mein psychotisches Testament zieht einen symbolischen Schlussstrich. Um einen Neuanfang zu wagen; weg von der Identifikation mit, hin zur Emanzipation von meiner Grunderkrankung.

Simone thront zu Hause auf ihrem Meditationskissen, im Schneidersitz. Da ihre Beweglichkeit zu wünschen übrig lässt, stützt sie ihre Knie mit einer Decke. Die Hände sind zu einem Mudra geformt, welches reinigend wirken soll. Die anderen Menschen, die sie aus ihrer Meditationsgruppe kennt, praktizieren mit einer Handposition, welche bei ihr nicht funktioniert. Da sie in erster Linie Übelkeit auslöst. So sitzt Simone da, alleine, vor einem kleinen Altar. Und in einem Zimmer, das nur für die Meditation bestimmt ist. Alle Elemente sind berücksichtigt oder repräsentiert. Eine Kerze brennt, ein Schälchen Wasser steht bereit, der Raum ist frisch gelüftet, kaum ein Geräusch ist hörbar und die Sitzunterlage verspricht eine schmerzfreie Session. Sie schliesst ihre Augen und geht in die Stille. Ihre Wahrnehmung richtet sie zuerst auf ihren Körper, dann auf ihre Atmung.

Anschliessend tut Simone etwas Verheerendes; ohne risikofreudige Absicht. Sie öffnet ihr Herz. Indem sie das Organ gedanklich fokussiert und sich vorstellt, wie es sich weit aufmacht. Unverzüglich fliesst eine warme, kribbelnde Energie über das Tor der Liebe in sie hinein. Dadurch beginnt sich der Körper so stark zu erhitzen, dass es ihr den Schweiss auf die Stirn treibt. Ihr Kopf, übersät von prallen, salzigen Perlen, fühlt sich fiebrig an. Kurz blitzen Ängste auf. Was, wenn dieses Temperaturspiel für ihren Organismus schädlich ist? Doch die Faszination überwiegt. Und Simone entscheidet sich bewusst dafür, das Erlebnis mit den Energieströmen bis zu seinem natürlichen Ende auszukosten. Die Wärme fliesst nun über das Herz nach draussen. So lange, bis sie zu frieren beginnt, leise mit den Zähnen klappernd. Es erscheint ihr wie ein vorprogrammierter Zyklus, der jedoch abrupt abbricht; ihre Augen werden impulsiv aufgerissen. Ob Minuten oder Stunden vergangen sind, kann sie nicht nachempfinden. Doch sie ist physisch krank, hat eine erhöhte Temperatur, Hals- und Kopfschmerzen.

Es ist ein Samstag. Simone kann sich zum Glück ausruhen. Sie arbeitet erst am Montag wieder. Als Sekundarlehrerin ist sie nach Abschluss ihres Studiums in Luzern mit einem überschaubaren Pensum ins Berufsleben eingestiegen. Eine Vollzeitstelle im ersten Arbeitsjahr ist nicht vorstellbar. Langsam will sie sich an die Verantwortung herantasten. Was ihr diesbezüglich entgegenkommt; zusammen mit einem erfahrenen Teamkollegen darf sie eine anspruchsvolle Klasse führen. Somit lastet nicht alles auf ihr, viele Entscheidungen werden gemeinsam gefällt. Und Simone kann miterleben, wie bedeutsam das frühzeitige Eingreifen bei Unterrichtsstörungen ist. Verpasst sie den kritischen Moment, ist sie dankbar für die Anwesenheit der zweiten Lehrkraft. Er greift ihr gekonnt unter die Arme, aber ohne dass ihre Autorität vor der Klasse untergraben wird. So in etwa hat sie sich einen erfolgreichen Berufseinstieg vorgestellt, eng begleitet durch kollegialen Austausch und vom Aufwand her nicht überfordernd.

Am darauffolgenden Tag fühlt sich Simone immer noch leicht krank. Die erhöhte Temperatur legt sich wie ein Schleier auf ihre Wahrnehmung. Dennoch ist sie angetrieben und das sonnige Wetter lockt nach draussen. Sie rast in die Stadt, erkundet eifrig das lebendige Seeufer, geniesst das Wochenende in vollen Zügen. Doch etwas ist anders; die Menschen beobachten sie. Natürlich hängt dies mit dem gestrigen Erlebnis in der Stille zusammen. Dadurch hat sie nun eine höhere energetische Schwingung. Was für die Menschen spürbar ist und somit alle Blicke auf sich zieht. Anfangs stört sich Simone nicht daran, doch bald fühlt sie sich damit überfordert, informativ überreizt. Sie flüchtet aus der Menschenmenge, die Kontrolle scheint sie sogleich zu verlieren. Doch in diesem Moment hört sie erstmals seine Stimme in ihrem Kopf: «Geh unverzüglich nach Hause und tue alles, was ich dir sage!» Obwohl sie ihm noch nie zuvor begegnet ist, weiss sie sogleich, um wen es sich handelt. Und ab der ersten Anweisung wird sie zu seiner Marionette. Sie hat keine Möglichkeit, stopp zu sagen, aus seinem vorgegebenen Handlungsrahmen auszubrechen.

In der Wohnung angekommen, übernimmt er wieder sein autoritäres Zepter. So soll sich Simone komplett entkleiden und unter die Dusche stellen. Das über sie herabfliessende Wasser fühlt sich vorerst lauwarm, dann kochend heiss an. Ihr Kopf wird in den Nacken gerissen, ihr Mund öffnet sich und quälende Schreie erschallen in ihrer Wohnung. Sie sieht sich als eine auf dem Scheiterhaufen in Flammen aufgehende Hexe. Das Wesen in ihren Gedanken wendet sich nun mit mitfühlenden Worten an die Gepeinigte: «Alles wird vorübergehen, danach wirst du gereinigt sein!» Trotz der verspürten Zuneigung ist sich Simone sicher, dass sie heute an ihren Verbrennungen sterben wird.

In der Dusche bricht sie zusammen. Zuvor an einer Energiesäule aufgezogen, wird sie nun völlig unerwartet davon abgeschnitten und schlägt hart in der Badewanne auf. Sie verkrampft sich in der Embryoposition. Das Wasser fliesst immer noch über ihren nackten, verletzlichen Körper. Die Temperatur ist vorerst angenehm mild, ihre Verbrennungen kühlend. Doch sie schlägt um, nun ins Gegenteil, in die Eiseskälte. Simone sieht sich gefangen in einer Gletscherspalte, droht jeden Moment zu erfrieren. Ihre Zehen, Finger, Ohren und Nase verfärben sich blaurot und bilden Blasen. Das Gewebe vereist und stirbt ab. Eine innere Ruhe und Gewissheit entstehen, dieses Leben nun verlassen zu dürfen und in einem anderen wiedergeboren zu werden.

Doch auf einmal stellt sich das Wasser von selbst aus. Die wohlwollende Stimme taucht wieder in den Gedanken auf. Simone darf sich einen Moment lang mit einem flauschigen Handtuch abtrocknen. Zu ihrem Erstaunen stellt sie fest; ihr Körper scheint vollkommen unversehrt. Nun muss sie sich in ihren Meditationsraum begeben. Auch hier bricht sie zusammen. Jedoch aufgrund noch nie erfahrener körperlicher, geistiger und seelischer Erschöpfung. Sie liegt flach auf dem Bauch, in ihrer gottgegebenen Natürlichkeit, die Arme und Hände zum Altar ausgestreckt. Gewisse Gegenstände, die durch ihren Sturz herumgewirbelt wurden, befinden sich nun unter ihr und bilden schmerzhafte Druckstellen. Doch es ist ihr nicht erlaubt, sich zu bewegen. Ein sich zersetzender, von Würmern zerfressener Kadaver, so sieht sie sich vor ihrem inneren Auge. Und die Tierchen, welche sich durch ihr Gewebe schlingen, lösen ein zwickendes und todbringendes Gefühl aus. Ihre menschliche Materie zerfällt schliesslich komplett und verbindet sich mit dem untergründigen Erdreich. Lebendig, unlebendig begraben.

Schlagartig wird Simone an die Oberfläche katapultiert. Erst jetzt wird sie wieder an den Schmerz erinnert, den die harten und eckigen Gegenstände unter ihr verursachen. Doch es ist noch nicht zu Ende. Nun löst sich Simone auf; in ihre Elementarteilchen. Schicht für Schicht, von aussen nach innen, reissen sich ihre Grundbausteine los, verteilen sich in der Atmosphäre. Simone geht nun endlich ins Nirvana ein, so ihre Vorstellung. Vorerst stellt sich eine herzerwärmende Freude ein, dann eine bangende Angst. Schliesslich interveniert ihre begleitende Stimme: «Es ist noch nicht an der Zeit, dein irdisches Dasein aufzugeben. Du hast noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.» So fällt Simone zurück in ihre physische Gestalt und auf den realen Boden. Sie darf nun aufstehen. Was eine grosse Erleichterung für sie bedeutet, voller Hoffnung, dass es nun vorüber ist.

Doch ein grosser Vorhang, den Simone erst vor Kurzem in ihrem Meditationszimmer installieren lassen hat, um die spirituelle von der restlichen Welt zu trennen, ist nun im Visier. Sie soll diese Täuschung entfernen, da eine solche Trennung nicht existiere. Mit aller Kraft reisst sie den Stoff von der Decke, in ihrem übernatürlichen Zustand ein Kinderspiel, trotz der Erschöpfung. Dann wird es Zeit für den letzten Raum, das Schlafzimmer. Die ihr heilig gewordene Stimme weist Simone wiederum an, nackt auf den Bauch, mit der Gesichtsfläche im Kopfkissen, ins Bett zu liegen. Schon wieder naht der Tod, nun in Form des Erstickens. Sie versucht sich zu bewegen, um nach Luft schnappen zu können. Doch ihr Körper ist versteinert. Sie ist völlig wehrlos. Nach der anfänglichen Angst stellt sich ein Delirium ein. Es fühlt sich so an, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Im letzten Moment reisst es ihr den Kopf zur Seite weg.

Endlich erhält Simone von ihrer inneren Stimme die Absolution, um schlafen zu dürfen. Doch trotz des anstrengendsten und angsterfüllendsten Erlebnisses ihres bisherigen Lebens, liegt sie noch eine Weile mit einem Lächeln auf den Lippen wach. Denn sie ist der Überzeugung: Dies war ein spirituell reinigendes Ritual, welches nur ganz wenigen auserwählten Menschen dieses Planeten widerfährt. Und welches sie zu der baldigen Erleuchtung führen wird.

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