Primarschulzeit

Aus: Rudolf Jegge, Puzzleteile von RUEDI 1943–1969

Autobiographien sind heikel. Die Gefahr, sein Leben beschönigt darzustellen, ist naheliegend. Nicht, dass man bewusst Schönfärberei betreiben will, sondern weil das Gedächtnis uns einen gütigen Streich spielt: Es sammelt vorwiegend positive Erinnerungen und lässt die Unliebsamen barmherzig ins Unterbewusste absinken. Dazu kommt, dass wir eine in sich stimmige Geschichte von uns nachzeichnen möchten. Brüche und Ungereimtheiten, Unerklärbares und Zufälliges im Leben deuten wir gerne um: als selbstbestimmte Entscheidungen.

Ich beleuchte hier nur meine „jungen Jahre”. Mit diesem Lebensabschnitt sind wir nachsichtiger. In der „Sturm- und Drangzeit” tolerieren wir vieles – auch Ungereimtes. Dieses Büchlein zeigt’s.

Den Begriff „Legasthenie“ kannte man damals noch nicht. Tatsache war, dass ich all die formalen Leistungen nicht bringen konnte. Mein Vater war sehr enttäuscht über seinen einzigen Sohn: Ich entsprach nicht seinem Bild. Ich verspürte eine Art von Verachtung. Mein hervorragender Lehrer-Pädagoge hingegen ahnte, dass es nicht an der Intelligenz hing, und suchte mich zu fördern, wo ich Stärken hatte.

Primarlehrer Graf war grossartig: Damit auch ich einmal ein Erfolgserlebnis ergattern konnte, organisierte der Lehrer einen Wettlauf. Ich wurde aber nur Dritter. So liess er die ganze Klasse erneut rund um die Schützenmatte rennen und gab mir anschliessend die beste Note: weil ich „am schönsten“ lief.

Beim Ringkampf im Turnunterricht durfte jeder seinen Gegner selber aussuchen. Ein schmächtiges Bürschlein forderte mich. Nach kurzer Zeit lag dieser auf dem Rücken. Der Lehrer gab dem Unterlegenen die Eins: weil er Mut bewiesen habe!

Es war mein Traum, auch einmal eine Bestnote im Zeugnis nach Hause bringen zu können. Der Lehrer versprach mir, im Fach Turnen eine Eins mit Ausrufezeichen zu erteilen. Im Zeugnis aber stand lediglich die Eins – ohne das ersehnte Ausrufezeichen. Also ergänzte ich das Zeugnis selber und setzte das vergessene Ausrufezeichen hinter die Note. Nur: Die Reding-Feder spreizte sich und ein grosser Tintenklecks im Zeugnis war die Folge.

Wir mussten uns um 4 Uhr früh besammeln, um Vogelstimmen im Wald zu hören. Oder er mietete einen Kirschbaum bei einem Bauern, damit wir ihn plündern durften. Oder die Klasse besuchte das Hallenbad und die Kunsteisbahn. Wir alle krochen in die „Glitzersteiner Höhle”, die Mönche des Klosters Dornachs empfingen uns, wir spielten im Kaltbrunnental Höhlenmenschen und klopften Steine zu Äxten, das im Bau befindliche Rheinkraftwerk Birsfelden bauten wir im Sandkasten nach – jeder Tag begann mit einem Lied.

Lehrer Graf beauftragte mich, die Abschlussfeier der vierten Primarklasse zu organisieren. Das erfüllte mich mit Stolz. Besonders, weil ich beim Krippenspiel an Weihnachten keine Rolle bekommen hatte. Sogar im Blockflöten-Ensemble war ich offenbar nicht zu gebrauchen. Lediglich den Teppich für Maria und das Christkindli durfte ich in der Pause ausrollen. Das war auch insofern ein Drama, weil ein Verwandter aus den USA dem Krippenspiel beiwohnte. Der Cousin meiner Mutter, Fred Frölicher, war damals als Besatzungssoldat in Deutschland stationiert (1952–1953). Zu Weihnachten sollte er uns in Basel besuchen. Ich und meine Schwestern mussten ihn am Badischen Bahnhof abholen, denn die Eltern waren nicht in Basel. Er kam nicht und kam nicht. (Handys gab es noch nicht.) Ob er wohl schon per Taxi bei uns zu Hause vor der Türe steht? Die Schwestern fuhren schnell nach Hause zurück. Ich hatte zu warten. Er kam nicht! So entschied ich mich, per Tram an den Bahnhof SBB zu fahren. Dort traf ich auf einen herumlungernden, missmutigen Mann in Uniform. Nur: Ich konnte kein Wort Englisch (und er selbstverständlich kein Wort Deutsch). Weinend brachte ich ihn nach Hause – aber alle andern freuten sich.

Unsere Abschiedsreise auf das Rütli widerspiegelt den damaligen Zeitgeist: Zunächst sammelten die ganze Klasse Silva-Punkte. Damit konnten wir die Zug Billette für jene Schüler kaufen, die das Reisegeld nicht aufbringen konnten. Dann schrieb ein Vater, in gotischer Schrift auf eine Pergamentrolle, das Versprechen, dass wir uns gegenseitig stets Hilfe leisten wollen. Mit Trommel- und Pfeifenspiel und unter einer Schweizer Flagge zogen wir aufs Rütli. Dort ritzen wir uns die Finger und mit dem Blut unterschrieben wir das Dokument. Grosse Siegel dokumentierten das Geschehen. Ich selber unterzeichnete unter dem Vordruck “Der Richter”: …

Den Zeitgeist dokumentiert auch Folgendes: Die Fasnacht im protestantischen Basel fällt in die Fastenzeit der Katholiken. Es war ihnen demnach moralisch untersagt, nach dem Aschermittwoch das närrische Treiben mitzumachen. Unsere Religionslehrerin, die alte Schwester Maria, machte dazu eine perfide Kontrolle: Sie verteilte ein Blatt Papier mit einer aufgemalten Dornenkrone. Wer an der Fasnacht war, hatte eine Dorne der Krone des Heilands farbig anzumalen. […]

Das Abo-Geschenk für das Heft „Die Schweizer Jugend“ war für mich ein Graus. Warum? Dort waren, mit Blick auf den Übertritt ins Gymnasium, Diktate zur Übung der Rechtschreibung abgedruckt. Noch heute sehe ich das nervöse Wippen der Pantoffeln meines Vaters, wenn er ungeduldig alle meine Rechtschreibfehler rot anstrich. Es herrschte eine gereizte Stimmung: „Dr Chlii isch fuul und blöd“! Dazu kam, dass das Geld knapp war und die pubertierenden Schwestern für viel Ärger sorgten.

Kein Wunder flüchtete ich, wenn immer es ging, von zuhause weg: meistens auf den Werkhof einer Baufirma im Hinterhaus. Dort traf ich jeweils Bobbi, den 18-jährigen Sohn des Abwarts. Das soziale Gefälle zwischen unseren Familien war riesengross. Meinem Vater gefiel dieser Umgang absolut nicht, denn wir „verplämperleten“ die Zeit nur mit Fussball oder Hockey. Er war aber mein grosses Vorbild, denn er spielte Landhockey bei den „Basler Dybli“. Er begeisterte auch mich, doch mein Vater fand, ich solle zuerst in der Schule etwas leisten.

Bobbi erzählte mir auch von der fernen, weiten Welt: vom Krieg und der Fremdenlegion. Zum Beispiel von der Schlacht um „Dien-Bien-Phu“ im fernen Osten, wo die französische Kolonialmacht gerade all ihre Kolonien verlor. Das war meine erste politische Bewusstwerdung. Später erinnere ich mich genau an den Tod von Stalin 1953 und den Aufstand der Ungaren 1956. […]

Am Samstag war Wölfli- oder Pfadiübung. Wenn ich schmutzig und müde von der Übung nach Hause kam und ins Bad wollte, ging das nicht: Meine Schwestern badeten im einzigen damals verfügbaren- Badezusatz, „Fenjal“. Dabei rezitierten sie lauthals Schillerballaden oder „Romeo und Julia”-Passagen. Sie waren eben beide Theaterverrückt und schwärmten als echte Backfische für gewisse Schauspieler. Übrigens: Die ganze Stadt roch am Samstagabend nach diesem „Fenjal”. Es war der einzige Badezusatz neben dem althergebrachten Fichtennadelöl.

Pfadiübungen waren auch ein Vorwand, um verbotenerweise ein Kino zu besuchen. In den gut geheizten „Revolverküche“ (Clara, Union, Maxim etc.) sahen wir uns neben strickenden, alten Mütterlein billige Wild-West-Filme an. Die Angelegenheit flog erst per Zufall auf: Mein Vater war in der Kommission zur Renovation der Marienkirche. Dort flüsterte ihm ein eingeweihter anderer Pfadivater von den Untaten ihrer Söhne.

Ein weiterer Fluchtort war „das Borromäum“, ein Heim für auswärtige Lehrlinge und für die Jesuiten in Basel. Die vielen Räume wurden genutzt für Pfafdi-Hocks, als Spieltreff für die Jungwacht, für Theater- sowie für Filmvorführungen. Vor allem aber gab es dort die grosse Attraktivität: einen Fernseher! Im überfüllten Raum sah ich 1954 den Final der Fussballweltmeisterschaft: „Das Wunder von Bern”. Deutschland gewann erstmals wieder ein grosses Sportereignis nach dem verlorenen Krieg. Normalerweise war um 21 Uhr 30 unbarmherzig Schluss mit Schauen: Pater Obrist zog um diese Zeit den Stecker, ganz egal, was gerade gezeigt wurde. Dank dem „Borri“ konnte ich viele langweilige Familien-Spaziergänge mit alten Tanten zum Friedhof Hörnli vermeiden. Auf diesen wurde man sowieso immer kritisiert, sei es, weil man schmutzige Fingernägel hatte, „tschalped”, nicht „graduf” ging, „tschiengged” oder weil der Scheitel der Haare nicht gerade genug war.

An einem Abend stahl ich verbotenerweise und heimlich Mutters Velo aus dem Keller. Prompt fiel ich um und die Kieselsteinchen der frisch geteerten Strasse schürften beide Knie blutig. Am nächsten Morgen erschien ich trotz Sommerhitze mit Knickerbockern zum Frühstück. Meine Mutter wunderte sich sehr. […]

Nachdem ich genug lang „gschtüürmt ha“, tauschte mein Vater schweren Herzens das alte Rücktritt-Condor-Militärvelo des Grossvaters gegen ein „neumödisches BSF“. So hatte ich zwar nicht gerade ein Raleigh, aber immerhin hatte auch meines eine Dreigang-Übersetzung und Felgenbremsen.

Der „Schülergarten” lag auf dem Margarethenhügel. 1954 nutzten wir Velos, um dorthin zu gelangen. Statt dort brav die Blümelein zu giessen, duschten wir mit Hochgenuss die alte, schrumpelige Garten-Instruktorin.

Der gleiche Hügel diente auch als kurvige Rennbahn für selbstgebastelte Seifenkisten. Die Kugellager-Räder machten einen höllischen Lärm und gaben in den Kurven keinen Halt. Zum Bremsen nutzten wir oft die Schuhe. Diese gingen rasch kaputt und das gab Ärger mit den Eltern.

Zum Baden ging es ab zehn Jahren oft in den Rhein. Manchmal auch per Tram zur einzigen Badeanstalt, dem „Eglisee“. Der Eintritt kostete 15 Rappen. Einige Mitschüler brachte diese Summe nicht auf. Das Schönste wartete beim Ausgang: Vor dem Glacé-Männli bildeten sich lange Schlangen um für 10 Rappen einen Glacébollen zu erstehen.

An der Fussballweltmeisterschaft 1954 verdiente ich meine Eintrittskarten, indem ich nach dem Spiel die leeren Bierflaschen einsammelte und das Depotgeld reinvestierte für das nächste Spiel. Ich durfte ohne Aufsicht in diesen Menschentrubel.

 
Zurück
Zurück

Ihr Weg in die Psychose

Weiter
Weiter

Grossvater oder Gropa