Grossvater oder Gropa
Aus: Barbara Meister, Was bleibt.
„Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, ist nichts im Vergleich zu dem, was in uns liegt.“ Diese Worte habe ich einem Gedicht von Henry David Thoreau entnommen. In meinem Buch schreibe ich über das Leben und den Tod von Peter. Es ist unserem Enkel, unserem Sohn und Peter selber gewidmet. Während des Schreibens habe ich mich gefragt: Was bleibt ausser den Erinnerungen? Am Ende konnte ich das Fragezeichen hinter meinem Buchtitel löschen. Die Antwort habe ich für mich gefunden: Das was bleibt, liegt in uns.
Grossvater oder Gropa
Lieber Fionn
Du hast deinen Grossvater nie gesehen. Als du geboren wurdest, war er schon 22 Jahre lang tot. Dein Papi war damals erst 10 Jahre alt. Ich möchte dir von deinem Grossvater erzählen. Er war ein lustiger Mann, er konnte aber auch recht stur sein. Weisst du so: Wenn er etwas wollte, dann wollte er es einfach – und fertig. Das kennst du vielleicht auch von dir selber, von deinem Papi oder auch von deinem Mami.
Nennen wir deinen Grossvater Gropa, so wie du mir Groma sagst. Einen braunen Pferdeschwanz hatte dein Gropa, der war fast so lang wie sein ganzer Rücken. Er hatte meistens Stiefel an und grau-grüne Hosen mit vielen Taschen, so wie deine blauen Hosen mit den vielen Taschen für den Waldkindergarten. Vorne zwei Taschen, hinten zwei, auf der Seite eine grosse lange und auf der anderen Seite eine schmale lange. In den vorderen Taschen hatte er sein grosses, rotes Stoffnastuch, zwei bis drei Salbei-Zeltli und in jeder Tasche noch eine Kastanie vom grossen Kastanienbaum bei der Post. In der hinteren verstaute er sein Portemonnaie, das meistens nicht sehr voll war. In der grossen Seitentasche hatte er seinen Tabak, in der schmalen ein zusammengeklapptes Sackmesser oder sonst ein praktisches Werkzeug, das er im Moment brauchte. Der Schlüsselbund der „Tofurei“, in der er arbeitete, füllte meistens auch noch eine Tasche vorne. Also ein rechtes Gewicht in den Hosen und dann noch die schweren Stallstiefel, so konnte Gropa nie auf den Bus rennen, wenn es spät war. Er wartete lieber auf den nächsten Bus.
Alle kannten deinen Gropa in unserem Dorf. Kein Mann hatte so lange Haare wie er. Es gab eine Zeit, da hatten viele junge Männer lange Haare, die Hippies. Den Hippies sagte man auch Blumenkinder. Sie wollten keine Kriege auf der Welt. Sie wollten es friedlich haben miteinander. Die Hippies liebten auch die Natur also die Tiere, die Bäume, das hohe Gras und eben die Blumen. Groma war ein bisschen eine Hippie gewesen. Gropa hatte seine Haare einfach nie abgeschnitten wie sonst die meisten anderen Männer, die ins Büro gingen oder sonst einen Beruf hatten. Die Leute meinten, Gropa sei ein Hippie. Gropa wollte aber zu keiner Gruppe von Menschen gehören, also auch nicht zu den Hippies, obwohl er die Natur liebte und auch den Frieden auf der Welt wollte. Also: Gropa hatte einfach lange Haare und übrigens auch O-Beine, so wie ein Cowboy vom vielen Reiten. Und noch etwas hatte dein Gropa: Augenbrauen so buschig wie ein Gestrüpp im Wald. Schau mal bei deinem Papi, er hat fast so viele Haare über den Augen wie dein Gropa. Etwas ganz Schönes hatte Gropa noch: grosse braune Augen. Deshalb verliebte sich deine Groma in Gropa.
Dein Gropa hatte Ziegen. Den Ziegen gab er Namen, den Schafen nicht. Die vier Ziegen waren seine Freunde, sie gaben uns Milch. Es war gar nicht so einfach, die Ziegen zu melken. Sie schubsten immer wieder mit dem hinteren Bein den Kübel weg oder wedelten dem Gropa oder der Groma den Schwanz ins Gesicht. Der kurze Schwanz war aus borstigen Haaren, an denen manchmal auch noch Mist klebte.
Gropa hatte viele Schafe, ungefähr 12. Er wusste, dass er eines Tages ein Schaf schlachten musste, um Fleisch essen zu können. Deshalb gab er seinen Schafen keine Namen, sonst hätte er keines töten können. Dein Gropa sagte: Wer Fleisch essen will, muss auch ein Tier selber schlachten können. Nur wenn man das kann, darf man Fleisch essen. Er tötete nur ein Tier im Jahr und kein Junges und er bedankte sich vorher bei ihm. Ihm bedeuteten seine Tiere sehr viel. Er sagte, dass er viel lernen könne von den Tieren. Als Groma deinen Papi im Bauch hatte und der Bauch schon dick war, sagte dein Gropa zu deiner Groma: „Mach es doch wie ein Schaf, sei ganz ruhig und lass das Kindlein einfach unten hinausplumsen.“ Groma sagte ein bisschen wütend: „Aber Gropa, ich bin doch kein Schaf! Ich werde unser Kind im Spital zur Welt bringen und nicht wie Maria und Josef an Weihnachten im Stall oder auf der Wiese wie unsere Schafe.”