Berge
Aus: Margrith-Lydia Bolliger, Alphabet
Lange vor Sonnenaufgang schleichen wir uns aus dem Haus. Noch schlaftrunken trotte ich neben ihm her durch das noch schlummernde Dorf. Hügelan. Sogar die Vögel schlafen noch. Nur das Huh-huh eines Käuzchens und da und dort das verschlafene Gebell eines Hundes begleitet uns. Die morgendliche Kühle dringt durch meine Strickjacke. Ich fröstle. Überstürzt hatte ich das warme Bett verlassen, als ich sein geflüstertes: “Kommst du mit auf den Schauenberg?”an meinem Ohr hörte. Und ich wollte! Immer! Zu jeder Jahreszeit! Und jetzt ist es Sommer und der Tag bricht früh an.
Wir sprechen nie viel. Ich muss zügig ausschreiten um Schritt zu halten. Der Weg ist weit und er will das Ziel vor Sonnenaufgang erreichen. Die Sonne aufgehen sehen, ist für ihn wie Gottesdienst.
Er wählt den Holzfällerpfad durch den Wald, der ist zwar etwas beschwerlicher, aber eine Abkürzung. Die Düsternis des Waldes nimmt uns auf. Er kennt den Weg und mit seinen “Katzenaugen”findet er sich auch in der weglosen Dunkelheit zurecht. Er nimmt mich an der Hand und meine Schritte werden sicherer. Die ungewohnten Geräusche ängstigen mich. Doch an seiner Hand ist mir nicht bange. Plötzlich in unmittelbarer Nähe das Knacken von Geäst, hastendes Getrampel das sich entfernt. Ich erstarre vor Schreck: “Nur ein Reh,“ murmelt er und greift erneut nach meiner Hand. Endlich wird es heller und wir erreichen die Strasse.
Ein Dorf taucht auf. In einem Haus brennt Licht. Ein Hahn kräht verschlafen und eine Amsel beginnt zu singen. Wir lassen das Dorf hinter uns und wandern schweigend weiter, um bald in einen kleinen Trampelpfad abzubiegen der erneut durch einen Wald bergan führt. Ich habe die grösste Mühe ihm zu folgen. Wie von unsichtbarer Hand gezogen stürmt er vorwärts. Wir erreichen die Höhe und durch die Baumwipfel wird am Himmel ein zarter heller Streifen sichtbar. Er lässt meine Hand los und klettert die letzten Meter zum Gipfel hoch. Mit einem kräftigen Handgriff zieht er mich neben sich. Da steht er, die Hände in den Hosentaschen und schaut gen’ Osten. Der schmale Dunststreif am Horizont färbt sich zart goldorange. Noch liegt ein violetter Schleier darüber. Doch dann brennt der langsam aufsteigende Sonnenkreis machtvoll ein glühend rotoranges Loch in den Dunstschleier über dem Horizont. Die Sonne geht auf! Seine Hände sind nun wie zum Gebet vor seiner Brust gefaltet. Ich schaue zu ihm auf. In seinen Augen stehen Tränen und er wischt sich über die Wangen. Vater weint.