Das bunte Schaf [Ausschnitt]

Aus: Andrea Leibundgut, Das bunte Schaf

Mit sechzehn werde sie mit einem unehelichen Kind heimkommen. Das sagt ihre Mutter ihr zum ersten Mal, als sie dreizehn ist. Die erste Periode bekommt sie mit Ende siebzehn und ihr erstes Kind, als alle ihre Geschwister längst Eltern geworden sind.

Worauf diese Befürchtungen fussen, ist ihr bis heute unklar. Es ist die Zeit, in der Frauen noch wenig Raum beanspruchen, sich wie ein Puzzleteil in die Vorstellungen der Ehemänner einfügen. Die Mutter fürchtet sich möglicherweise um den Ruf der Familie. Sie gelten im Städtchen als Vorzeigemodell, fünf Kinder, alle wohlgeraten. Sie passt nicht ins Bild der braven Tochter, ist aufmüpfiger als ihre jüngere Schwester, rebelliert schon früh gegen ihren Bruder, der sich als Chef der Kinder sieht. Sie überschreitet Grenzen, klaut auch schon mal Geld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter, findet Schlupflöcher in deren strengem Reglement. Seit dem Kindergarten hat sie immer einen Schulschatz, erzählt ihrer Mutter jedoch bald nichts mehr davon. Diese schimpft viel, schlägt manches Mal, an Umarmungen kann sie sich nicht erinnern.

Schminken ist ein Tabu. Lackiert sie sich die Fingernägel doch einmal heimlich mit farblosem Lack, dauert es keinen halben Tag, und ihre Mutter schickt sie unter Schimpfen ins Badezimmer. Immer wieder reibt diese ihr mit dem von Spucke nassen Finger über ihre Augenbrauen, weil sie überzeugt ist, dass sie diese anmalt. Eklig ist das und unnütz, ihre Brauen waren und sind braun. Zu gerne hätte sie lange Haare. Gemäss ihrer Mutter müssen diese aber immer kurz geschnitten werden, damit sie dereinst dicker werden. Was für ein Unsinn! Die Röcke müssen knielang sein, die Hosen bloss nicht eng und körperbetont. Das Weibliche ist nicht wünschenswert, so die Botschaft.

Den Bikini, den sie sich so sehr zum Geburtstag wünscht, bekommt sie nie. Die Schürze, die sie zur Schule über ihr Kleid anziehen muss, legt sie, fein säuberlich gefaltet, nach der ersten Wegbiegung in die Schultasche, eine kleine Rebellion. Ob die Eltern der Mutter, die sie selten sieht, auch so streng gewesen sind? Sie erinnert sich wenig an den Grossvater, ein eher schmächtiger, zurückhaltender Mann, der früh stirbt. Die Grossmutter aus dem Tessin sieht sie deutlicher vor sich, immer mit viel Goldschmuck behangen, mit schwarzen Lackschnürstiefelchen, violett getönten, dauergewellten Löckchen. Sie mag sie und wüsste gerne mehr von ihr. Denn diese Grossmutter erwidert ihre Zuneigung, sieht vielleicht die Rebellin in ihr, die sie selbst auch ist. Zweimal schenkt sie ihr ein goldenens Armband, einfach so beim Essen, ohne Kommentar. Ihre Schwestern gehen dabei leer aus. Es ist spürbar, dass der Vater seine Schwiegermutter nicht mag, wohl der Grund, warum sie so selten zu Besuch kommt.

Die Mutter muss zum Katholizismus konvertieren, um den Vater heiraten zu dürfen. Sie hält sich an die strikten Vorgaben der Kirche, Ida, ihre Schwiegermutter, wacht mit.

Sie ist das dritte Kind ihrer Eltern. Das erste stirbt kurz nach der Geburt. Es wird noch auf den Namen Barbara getauft. Ihr Bruder ist der ersehnte Stammhalter, ein Jahr später kommt sie zur Welt, wiederum eineinhalb Jahre später die Zwillinge. Vier Kinder in drei Jahren gehören jetzt zur Familie. In dieser Zeit herrscht die Meinung vor, dass Babys mit ihrem Schreien ihre Lunge stärken, zu viel Zuwendung sie verweichliche. Die Mutter übernimmt diese Position, wohl auch zwangsläufig.

Sechs Jahre nach den Zwillingen gebärt die Mutter noch ein Mädchen. Die Eltern nennen sie wieder Barbara. Sie wird das einzige der fünf Kinder sein, das verwöhnt, dem jeder Wunsch erfüllt wird. Die Eltern bezahlen Reitstunden, die Mutter fährt sie zu unzähligen Reitturnieren, immer mit weissen Ersatzreithosen dabei, falls eine Monatsblutung einsetzen sollte. Sie lässt es ihr durchgehen, dass sie nach dem Bad ihre schmutzigen Kleider auf dem Boden liegen lässt, räumt ihr das Zimmer auf, fragt sie nach Essenswünschen. Das trägt nicht eben zu ihrer Beliebtheit unter den Geschwistern bei.

Mit jedem weiteren Kind baut der Vater ein neues Haus, was zu unendlich viel Mehrarbeit für die Mutter führt. Ob er seine Pläne mit ihr abspricht, bezweifelt sie. Zu oft kommt er abends heim und beginnt mit einem Vorschlaghammer eine Wand einzureissen, das Esszimmer, die Stube oder die Terrasse sollen grösser werden. Er ist ruhelos. Oft erzählt er, dass er immer schon nach Kanada auswandern, ihre Mutter aber davon nichts wissen wolle.

Einzig in den Zeltferien am Blausee ist die Atmosphäre in der Familie entspannt. Der Vater angelt den ganzen Tag, die Kinder können tun und lassen, was sie möchten, und abends brät die Mutter Fische für ihre Familie und Zeltnachbarn. Es ist die einzige Zeit ihrer Kindheit, in der sie sich geborgen fühlt. Im grossen Giebelzelt schlafen alle gemeinsam auf Luftmatratzen, die Mutter auf dem Liegebett.

Später kauft der Vater ein Ferienhaus. Die Organisation dieser aufwändigen Wochenendausflüge ist Sache der Mutter. Auch dort, am Sarnersee, sind sie als Familie in einer entspannteren Situation, die Eltern verbringen mehr Zeit miteinander. Im Sommer laufen die Kinder eine Stunde zum See runter, abends verschwitzt zurück, im Winter fährt der Vater sie auf die Mörlialp. Skifahren bringen sich die Kinder selbst bei. Der grosse Bruder ist verantwortlich dafür, dass sie alle am Abend die unpräparierte Talabfahrt durch den Wald heil überstehen. Er muss viel geflucht haben, die Skibindungen sind rudimentär, immer wieder muss er hochstacksen und einem seiner Geschwister wieder auf die Beine helfen. Im Tal unten wartet der Vater im Auto auf sie. Wenn sie sich verspäten, wird er ärgerlich.

Am schönsten ist Ostern und die Suche der Nestchen draussen.
Bei den Nachbarsbuben des Bauern lernen sie, Kühe zu melken, auszumisten und jassen. Jassen mag sie noch heute.

Einmal ist Ostern furchtbar. Der Vater bringt ein paar Wochen vorher ein kleines Zicklein mit nach Hause. Die Kinder haben den Auftrag, es im Garten draussen mit dem Milchschoppen zu füttern. Ihnen ist lange nicht bewusst, dass dieses Tierchen den Osterbraten werden wird. Keines wird einen Bissen davon essen.
Dieser Vater kennt kaum Grenzen. Einmal kommt er mit einem dicken Verband am Daumen zum Mittagessen, er ist in eine Bandsäge geraten. Zum Entsetzen aller hält er den abgetrennten Daumen in der anderen Hand und hält ihn dem Hund hin. Dieser verschmäht ihn. Wenn einer der vielen Familienhunde alt und krank wird, geht er mit ihm in den Wald und erschiesst ihn. Das, so erzählt er oft, wird er mit sich selber auch tun, wenn es an der Zeit ist, zu gehen. Seine spätere Demenz wird ihm das verunmöglichen.
Jahre später, er ist etwa fünfzig Jahre alt, beschliesst er, mit Rauchen aufzuhören, sechs Wochen später nach Tansania zu fliegen und den Kilimandscharo zu besteigen. Er schafft es, natürlich, schliesslich ist Willen alles, das propagiert er ständig.

Ihre erste Tochter wird diesen Berg Jahre später ebenfalls besteigen, ein Geschenk, dass sie sich zum Abschluss des Studiums selbst macht. Fortan macht er in seiner Freizeit ausgiebige Bergtouren, lernt dabei seine zukünftige Partnerin kennen, die drei Monate nach dem Tod der Mutter bei ihm einziehen wird.

Die Mutter führt das Büro des Malergeschäfts, Offerten, Rechnungen, das Lohnwesen, bewirtschaftet einen grossen Gemüsegarten, betreut ihre an Demenz leidende Mutter, füllt die Steuererklärungen der Nachbarn aus, und anfangs, wenn es finanziell eng ist, arbeitet sie halbtags bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber, einem Notar. Daneben fertigt sie an ihrer Strickmaschine für alle ihre Kinder verhasste Wollstrumpfhosen und kratzige Winterpullover an, kocht täglich mittags und abends eine warme Mahlzeit, Suppe und Salat gehören immer mit dazu. Der Vater besteht darauf. Zu seiner Erholung geht er jedes Wochenende angeln, eine Woche im Jahr nach Irland, zu den Lachsen. Kinder sind Frauensache.

Fisch mag sie heute nicht mehr.

In späteren Jahren, nach der Diagnose Brustkrebs, will die Mutter immer noch nichts von einer offensichtlichen Überlastung hören, sie mache ja alles gern. Nicht einmal einer Putzhilfe stimmt sie zu.
Ein striktes Regime ist notwendig, die Mithilfe der Kinder im Haushalt und im Geschäft des Vaters unerlässlich.

Jeden Samstag reiht sie etwa zwanzig Schuhe und Stiefel auf dem Garagenmäuerchen zum Putzen auf, anschliessend muss die Einfahrt gewischt werden. Das aufwändige Kochen hinterlässt Spuren in der Küche. Für das anschliessende Aufräumen, eine Abwaschmaschine kommt erst viel später, sind die Kinder im Turnus zuständig.
Da müssen auch die beiden Brüder mithelfen, nicht so aber beim Auftrennen und verlängernden Anstricken der verhassten Wollstrumpfhosen oder beim Jäten im Garten. Die Mutter ist eine Sammlerin. Stundenlang streifen sie mit ihr durch den Schwarzwald, pflücken Heidelbeeren oder suchen Pilze. Auf der Wiese rund um das Haus gibt es viele Obstbäume, und es gilt, keine Früchte verderben zu lassen. Äpfel und Birnen werden gedörrt, Kirschen und Zwetschgen entsteint und in Gläsern sterilisiert. Linden- und Holunderblüten müssen gepflückt und getrocknet werden, nach der jährlichen Fahrt zur Gemüsefabrik Hero, die ihre Felder nach der Ernte freigibt, Berge von Bohnen entfädelt und gedörrt werden. Mindestens zwanzig Sorten Weihnachtsgebäck ist Ehrensache.

Samstags ist Badetag. Sie sitzt dann, gemeinsam mit ihren Geschwistern, in der Wanne. Alle Nägel werden geschnitten, die Haare gewaschen, frische Wäsche verteilt.

Jahre später wird sie das häufige, manchmal gar zweimal tägliche Duschen ihrer Kinder oft als übertrieben empfinden.

Der Familienhund bringt viel Schmutz ins Haus. Der Vater hat aus einer Laune heraus im Wohnbereich Tonplatten verlegt. Darauf sind die nassen Hundepfoten besonders gut sichtbar, und somit gehört das tägliche feuchte Aufwischen mit zu den Kinderpflichten. Trotzdem ist es nie wirklich sauber im Haus, und manchmal schämt sie sich, wenn Freundinnen zu ihre nach Hause kommen. Wenn die BBC dem Vater wieder einen Auftrag erteilt, helfen alle mit beim Siebdruck der hunderten Holzkistendeckel. Das dauert jeweils Tage, der Druck ist zweifarbig.

Darunter leidet sie nicht, kennt nichts anderes. Was sie schlimm findet, ist die strikte Nachtruhe um sieben Uhr. Muss sie doch einmal noch zur Toilette, steht die Mutter neben ihr, um zu kontrollieren, dass sie nicht einfach aus Ungehorsam nochmals aufgestanden ist.
Zeitweise ist sie tagsüber bei den Grosseltern im Städtchen oben, angeblich, um ihnen zu helfen. Abgesehen von den vielen Kirchbesuchen gefällt es ihr dort. Kocht die Grossmutter den so schrecklichen Kalbskopf, bekommt sie ein Schnitzel. Julius, der Grossvater, der erste im Städtchen, der sich damals ein Auto kaufen kann, nimmt sie oft mit in seinem Opel Kapitän, um auf seinen Beizentouren Kunden zu besuchen. Das findet sie sehr langweilig, zumal der Grossvater furchtbar langsam fährt und ein Glas Sirup für Stunden ausreichen muss. Die Grossmutter Ida stellt ihr einen kleinen Kochherd, den sie mit Metatabletten heizen kann, auf die Veranda. Dort kocht sie fortan Buchstabensuppen und Griessbrei. Da lernt sie auch den Sohn des benachbarten Coiffeurs, Gerhard, kennen. Er wird sie Jahre später vergewaltigen.
Ida erzählt ihr Geschichten von früher. Nach dem Krieg hätte ihr Hans, ein Freund der Familie, Orangen gebracht. Da sie diese nicht kennt, wirft sie sie auf den Misthaufen hinter dem Haus. Die Eltern von Julius, die im gleichen Haus leben, pflegt sie jahrelang bis zu deren Tod. Sie sei als Schwiegertochter mit deutschen Wurzeln unerwünscht gewesen und entsprechend als Magd behandelt worden. Die gesamte Wäsche wird von Hand gewaschen, sie kocht alle Mahlzeiten der neunköpfigen Familie – fünf Kinder haben Julius und Ida – auf dem Holzherd. Die Kirche wird zu ihrer Zuflucht. Julius erkrankt später an Darmkrebs, siecht monatelang dahin, gepflegt von der klaglosen Ida. Nach seinem Tod gründet sie eine Strickgruppe. Fortan treffen sich die alten Frauen des Städtchens im Kirchgemeindehaus, um für die Armen in Afrika Decken zu stricken. Ida erklärt ihr, die alten Frauen müssten sinnvoll beschäftigt werden. Nichts tun geht nicht.

Dass sie selbst Jahre später mit ihrem Ehemann in dieses schmale, vierstöckige Stadthaus von Ida und Julius einziehen wird, weiss sie noch nicht. Deren Geschichten aber spuken in den Mauern, und, kurz vor ihrer Heirat mit Fritz, bei der ersten Besichtigung mit ihrem Vater, der das Haus etwas modernisiert hat, wird sie von Schmerzen und Krämpfen überwältigt. Im Krankenhaus verliert sie ihr erstes Kind in der zwölften Schwangerschaftswoche. Fritz und sie sind sehr traurig. Sie fragt sich insgeheim, ob das eine Art Gottesstrafe für die Abtreibung ist. Es wird noch Jahre dauern, bevor sie sich aus der katholischen Kirche verabschieden wird. Ob es da einen Zusammenhang zwischen dem Abort und der Erzählung ihres Vaters gibt? Im kleinen Kämmerchen hinter der Stube habe er jede Nacht im Bett seines Grossvaters schlafen müssen und sei, wann immer möglich, über das kleine Fensterchen abgehauen, um unten im kalten Flur zu übernachten.

 
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