Start ins Leben [Ausschnitt]
Aus: Mara Mathis, Wellenritt ins Ungewisse
Es war ein Kriegstag wie alle anderen seit fast fünf Jahren: Sirenen heulten, Menschen rannten in die Keller oder Schutzräume. Doch in der Schweiz fühlte man sich sicher, denn unsere Väter standen als Soldaten an der Grenze und versuchten, die Schweiz zu verteidigen. Meine Mutter hatte während dieses Kriegs schon drei Kinder geboren und war wieder schwanger. Sie erschrak jedes Mal, wenn die Sirenen heulten, und ihr Bauch zog sich zusammen. Sie rannte mit meinen Geschwistern in den Keller, um Schutz zu suchen. Als Ungeborenes tat diese Situation nicht gut. Endlich kam der Tag, an dem die Geburtswehen einsetzten, eine Gemeindeschwester kam zu uns nach Hause. Damals war es üblich, zu Hause zu gebären, vor allem konnte man die anderen Kinder nicht allein lassen. Mutig und in guter Hoffnung begann die Heimgeburt, für meine Mutter war es ja nicht das erste Mal. Alles ging ziemlich schnell und ein Mädchen wurde geboren.
Doch meine Mutter fühlte sich nicht wohl danach und sagte der Krankenschwester, dass sie wieder Wehen hätte. Diese meinte: «Oh, das ist sicher die Plazenta, die noch raus muss», und drückte meiner Mutter auf den Bauch. Es war nicht die Plazenta, das war ICH! Zugabe! Ein riesiger Schreckmoment für alle. Es war eine Zwillingsgeburt! Auch kamen wir etwa sechs Wochen zu früh, waren also Frühchen, die sofort mit Wärmetüchern, Bettflaschen usw. gewärmt werden mussten. Man bettete uns zu zweit in den vorbereiteten Stubenwagen. Das waren sicher hektische Momente für alle Beteiligten. Man kann sich dies heute gar nicht mehr vorstellen. Voruntersuchungen wie Ultraschall gab es noch nicht, also wusste man nichts von den Zwillingen. Wir mussten rund um die Uhr gestillt werden. Meine Mutter erhielt Hilfe von den Nachbarinnen, vor allem bekam sie von den Frauen Rationierungsmarken für Reisschleim. Dieser ernährte uns zusätzlich gut.
Die Frauen hielten zusammen, denn die Männer waren im Militär. Mein Vater wusste noch nichts von diesem grossen Zuwachs in seiner Familie, da wir damals auch kein Telefon hatten. Irgendjemand konnte im Militär eine Nachricht hinterlassen. Mein Vater erhielt Urlaub und kam nach Hause. Ob er sich richtig freuen konnte, weiss ich nicht. Es war ihm sicher klar, dass es auch für ihn eine grosse Aufgabe sein würde, nach dem Krieg diese grosse Familie finanziell durchzubringen. Er kam aus einer grossen Familie und hatte sieben Geschwister. Er erlebte schon als Kind den Ersten Weltkrieg und konnte sich sicher daran erinnern. Sein Vater, mein Grossvater, war Lehrer im Dorf. Er starb aber, bevor wir geboren wurden. Mein Vater musste früh arbeiten gehen. Nun hatte er selber eine grosse Familie.
Eine solche Geburt mit Überraschungen kann man sich gar nicht mehr vorstellen, vor allem in unseren Breitengraden. Durch den Ultraschalluntersuch sieht man heute bei einer Schwangerschaft von Anfang an, ob Zwillinge unterwegs sind. So kann ein Ehepaar sich darauf vorbereiten. Das war damals nicht so, es gab vermutlich viele solche Überraschungen. Es war sicher kein guter Start in diese unruhige Welt!
Stark werden
Der Dorfarzt wurde gerufen, um uns zu untersuchen. Er war zufrieden, wir hatten uns gut entwickelt. Unsere Mutter stillte uns rund um die Uhr. Wir hatten aber noch keine Namen. Vor allem für mich musste schnell einer gefunden werden, meine Schwester sollte Emilie heissen. Genannt wurde sie von allen Milli. Auch eine weitere Patin und ein Pate mussten schnell her, denn wir wurden ziemlich rasch nach unserer Geburt getauft. Das war oder ist heute noch so in katholischen Gegenden. Man wollte sicher gehen, dass ein Kind getauft ist und, wenn es nicht überlebt, christlich beerdigt werden konnte. Somit hatte meine Mutter auch noch diese Sorge.
Für meine Zwillingsschwester und mich begann der Überlebenskampf schon früh. Stark mussten wir werden, mein Lebensmotto bis heute: Nicht aufgeben, vertrauen und das Beste daraus machen. Meine Gotte war dann aus der Not heraus eine Frau aus dem Dorf, die jeweils die Zeitschriften vertrug, und mein Götti war der Milchmann, der täglich vorbeikam. Meine Schwester bekam den bereits ausgewählten Onkel und die Tante, eine Schwester meines Vaters. Okay, was sollte ich machen?
Meine Zwillingsschwester war schwächer als ich und blieb es auch ein Leben lang. Sie erkrankte bald nach der Geburt an einer Hirnhautentzündung, man bangte um ihr Leben. Alle hatten Angst vor einer Ansteckung. Es war schwierig, da es noch keine Antibiotika gab. Wir überlebten, aber meine Schwester war nie richtig stark. Es war meine Aufgabe, ihr in allen Bereichen zu helfen. Sie wurde verwöhnt und als schwach wahrgenommen, hatte aber einen starken Charakter. Sie konnte sich immer durchsetzen.
Wir waren nun eine grosse Familie, für meine Mutter bedeutete dies unglaublich viel Arbeit. Der Vater war immer noch als Soldat an der Grenze, die Situation war angespannt. Meine Mutter musste Essensgutscheine organisieren und vieles mehr. Leider gab es 1945 auch noch keine Pampers. Die armen Hausfrauen mussten zuerst den Heizkessel einfeuern, das Wasser im Tank erhitzen, damit die Zuber füllen und die Stoffwindeln abbrühen. Das kam einem sterilen Vorgang gleich. Gewaschen wurde dann von Hand. So passierte es auch, dass meine ältere Schwester, damals rund dreijährig, beim Spielen mit meinem Bruder rückwärts ins heisse Wasser fiel und kurz drauf an ihren Verbrennungen verstarb. Auch ihr konnte die Medizin damals nicht helfen. Und so musste dieses arme Kind leiden, bis ihre Nieren versagten. Leider war es nicht möglich, das Kind in ein Spital zu bringen, und so hat uns meine kleine Schwester viel zu früh für immer verlassen. Ein schreckliches Erlebnis für die ganze Familie!
Für meine Mutter war dies eine sehr traumatische Erfahrung, die sie nie verarbeiten konnte. Sie hatte ihr Leben lang offene Beine und viele Schmerzen. Ich war damals erst sechs Monate alt und kenne meine Schwester nur von den wenigen Fotos, die es aus dieser Zeit gibt. Nun waren wir nur noch vier Kinder. Als mein Vater die Unglücksnachricht bekam, war er sehr traurig, bedauerte den Zwischenfall und versuchte stark zu sein. Er nannte seine kleine Tochter, die viel zu früh sterben musste, «seinen Engel».
Leben nach dem Krieg
Zum Glück endete der 2. Weltkrieg am 8. Mai 1945. Alle Menschen konnten aufatmen und ein neues Leben beginnen. Einmal sagte mein Vater zu mir: «Mit deiner Geburt kam der Frieden!» Er hatte mich also in sein Herz geschlossen, das fühlte sich wunderschön an für mich! Mein Vater ging zurück in die Fabrik, um für uns das Geld zu verdienen. Er verdiente zu dieser Zeit 1.35 Franken die Stunde. Er musste jahrelang Schicht arbeiten, da die Papierproduktion 24 Stunden laufen musste. Papier war sehr gefragt nach dem Krieg. Diese Schichtarbeit ermöglichte es meinem Vater, tagsüber noch einer anderen Arbeit, zum Beispiel auf dem Bau, nachzugehen, sich zu Hause dem Garten zu widmen oder einfach zu schlafen. Mein Vater war ein solider Mann, pflichtbewusst, gläubig und sehr ehrlich.
Meine Mutter war eine gute Köchin, wusste viel über das Haltbarmachen von Gemüse: sterilisieren, heiss einfüllen oder in Erde eingraben. Sie wuchs auf einem Bauernhof auf und hatte früh gelernt zu helfen, denn auch ihr Vater starb, als sie noch ein Teenager war. Der Bauernhof wurde von meiner Grossmutter und ihrer Schwester weitergeführt, was zu der Zeit ungewöhnlich war. Wir bekamen dadurch immer viele Früchte und Fleisch vom elterlichen Hof geschenkt. Wir genossen diese vitaminreiche, gute Küche und wuchsen zu starken Kindern heran. Uns fehlte es in dieser Hinsicht an nichts.
Wir freuten uns auch immer sehr, wenn wir an den Sonntagen zu Fuss über den Rooterberg nach Meierskappel wanderten. Die Erwachsenen trafen sich zum Jassen, wir Kinder spielten mit den Cousinen – auch ein Zwillingspaar – auf dem Heuboden und rannten im Schopf herum. Es war immer ein fröhliches Treffen und machte hungrig. Das feine Zvieri hat uns jeweils sehr gemundet: Es gab eine feine Fleischplatte und selbstgebackenen Hefering. Die Grossmutter, die Bäuerin, spielte sehr gut Klavier und Orgel. Es gehörte zum Ritual des Sonntags, dass sie noch einen Walzer spielte. Sie liebte vor allem die Musik von Johann Strauss. Wir setzten uns gemütlich auf die warme Ofenbank und hörten gespannt und ruhig zu. Danach ging’s auf den Heimweg.
Bald fanden meine Eltern eine grössere Wohnung in einem Bauernhaus mit viel Umschwung und wir konnten draussen spielen. Mein Bruder ging schon zur Schule und brachte ein buntes Holzlineal nach Hause. Er musste damit gerade Linien auf den weissen Blättern ziehen, um in genauen Zeilen zu schreiben. Schönschreiben war ein Pflichtfach und sehr wichtig, natürlich mit Feder und Tinte. Eine Herausforderung! Meine Zwillingsschwester fand dieses Lineal sehr interessant und wollte damit spielen. Ich wollte es ihr wegnehmen und meinem Bruder zurückbringen, als sie anfing, damit auf meinen Schädel zu hauen, als wäre ich eine Trommel. Dieses Lineal hatte Kanten scharf wie ein Messer. Meine Schädeldecke platzte an verschiedenen Stellen auf, denn sie hatte mit viel Kraft zugeschlagen. Es blutete entsetzlich, als meine Mutter und die Urgrossmutter herangeeilt kamen und mich verarzteten. Sie schnitten mir die Haare ab, um die Wunden zu desinfizieren und das Blut zu stoppen. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ohnmächtig wurde oder wie ich das überlebt habe. Ich wurde nicht zum Arzt gebracht, um zu nähen.
Leider fingen die Wunden an zu eitern. Ich kann heute noch fühlen, wie meine Urgrossmutter, damals 95-jährig, mir den Eiter mit Kamillentee aus den Haaren zog. Ich kann mich auch erinnern, dass die Urgrossmutter, immer schwarz gekleidet mit langen Röcken und grossen Ohren, auf uns aufpasste. Die fanden wir so komisch, dass wir sie Osterhase nannten. Sie wurde nie böse und lachte mit uns. Die Wunden heilten langsam, aber ich habe immer noch grosse Narben auf der Schädeldecke. An diesen Stellen fehlen die Haarwurzeln, weshalb bis heute keine Haare mehr dort wachsen. Zum Glück habe ich sonst einen guten Haarwuchs.
In der Schule hatten wir keine Probleme, es lief gut. Der sonntägliche Kirchenbesuch gab uns Stabilität und Frieden in der Familie. Die ganze Dorfgemeinschaft war da, man heilte so die Traumata der Kriegsjahre und unterstützte sich gegenseitig. Ich aber war neugierig und wollte wissen, wo meine kleine, verstorbene Schwester begraben lag. So suchte ich immer den ganzen Friedhof nach ihr ab, bis ich ein kleines Kindergrab mit einem Engelsgrabstein fand. Hier ruhte sie also. Ich kam danach immer wieder zu ihrem Grab und sprach in meinem kindlichen Glauben mit ihr. Ich war froh, dass sie einen Schutzengel hatte, der sie begleitete. Manchmal plagte mich der Gedanke, dass sie weggehen musste, weil ich noch in die Familie hineingedrängt war.
Komisch, ich ging auch später während den Pausen in die nahe gelegene Kirche um nachzusehen, ob jemand im Totenhäuschen aufgebahrt lag. Ich wollte einfach sicher sein, dass die Person richtig tot war, bevor der Leichnam in die Erde versenkt wurde. Ich wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, ich war erst neun Jahre alt und hatte doch keine Ahnung von Leben und Tod! Ich hatte keine Angst, in jeden Sarg reinzuschauen, bis einmal eine schwerverletzte Leiche im Sarg lag. Durch das kleine Fenster konnte ich ihr zertrümmertes Gesicht sehen. Der Schock war gross, danach ging ich nie wieder ins Totenhaus. Den Geruch der Blumenkränze und des Toten hatte ich nachher noch lange in meiner Nase. Ich weiss bis heute nicht, warum ich das machen musste. Habe ich vielleicht meine verstorbene Schwester gesucht?
Die Ferien durfte ich manchmal bei meinem Götti, dem Milchmann, verbringen. Das war einfach toll, denn er hatte einen Milchwagen und ein Pony, das den Wagen zog. So war es damals: Der Milchmann ging von Haus zu Haus, um die Milchchesseli zu füllen. Teils kamen die Frauen an den Wagen, teils musste ich zum Milchkasten rennen und die Kessel holen, sie füllen, zurückstellen und das Geld einpacken. Diese Runde im Dorf dauerte den ganzen Morgen. Ich war einfach glücklich, das Pony zu führen und meinem Götti so zu helfen. Er und seine Frau hatten keine Kinder und so «adoptierten» sie mich. Nach der Tour gab es Essen. Am Nachmittag, wenn die Bauern die Milch brachten, wurden die Kannen gewogen. Die Milch kam teils in den grossen Kessel für die Käseverarbeitung, was mir besonders gut gefiel. Ich bekam Gummistiefel und eine dicke Gummischürze, die bei mir bis zum Boden reichte, und durfte mich auf einen Schemmel stellen. Im Rhythmus mit meinem Götti, der immer guter Laune war, durfte ich eine grosse Holzkelle in der Milch drehen. Er mischte etwas Milchsäurebakterien und Lab dazu, so dass die Milch sauer wurde. Es dauerte lange, bis die Milch geronnen war und wir die Molke abgiessen konnten. Ich durfte immer davon trinken, was sehr gesund war. Den Rest fütterte er den Schweinen, die ein glückliches Leben hatten. Doch noch lieber hatte ich den Ziger, ein quarkähnliches Produkt, das ich mit Zimt und Zucker zum Dessert bekam. Auch Butter durfte ich machen und dann mit einer Holzform in mit einem Edelweiss verzierte Formen pressen. Dies ergab wunderschöne Ankemödeli, auf die ich besonders stolz war. Seine Frau bediente im Laden und verkaufte die frischen Milchprodukte zusammen mit Eiern vom Hof. Ich liebte es, auch ihr im Laden zu helfen. Am Ende bekam ich sogar etwas Geld für meine Arbeit. Das machte mich besonders glücklich.