Entscheidung für die Liebe

Aus: Miri Weber, VIELLEICHT KOMMT ES SCHÖNER ALS DU DENKST

«Schau mal, wie sich die Bergspitzen durch die Morgensonne orange verfärben», rufe ich begeistert und zeige mit meiner freien Hand in Richtung der Berge. Mit der anderen Hand halte ich mein Snowboard unter den Arm geklemmt. Kili, Kim und ich laufen, so schnell wie es unsere Snowboardboots und das Gewicht des Bretts unter den Armen erlauben, von unserer Ferienwohnung zu den Bergbahnen. Unser Atem lässt an diesem kalten Wintermorgen kleine Wölkchen beim Ausatmen aufsteigen. «Mmmmmh, wie ich diese Stimmung liebe!», denke ich mir. Ich kann unseren Tag auf der frisch verschneiten Skipiste bei diesem Traumwetter fast nicht erwarten. Der Weg führt entlang der Strasse ein paar Meter bergauf. Neben uns fahren die ersten Autos zum Bergbahn-Parkhaus. Wir beschleunigen unsere Schritte. An solchen Tagen möchten wir die Ersten auf der Bergbahn sein. Es gibt fast kein schöneres Gefühl, als die ersten Spuren im Schnee zu ziehen. Da lohnt es sich, auch am Wochenende den Wecker zu stellen. Ausser Atem, doch mit einem Strahlen auf dem Gesicht, kommen wir bei den kleinen Gondeln an. Wir haben Glück und können ohne anzustehen unseren Saisonskipass an die Schranke halten und in die ersten laufenden Gondeln einsteigen. Nach ein paar Metern scheint die Morgensonne durch die Gondelscheibe und verteilt ein warmes, goldenes Licht in der Kabine. Höhenmeter um Höhenmeter fahren wir an meinen weissen Puderzucker-Lieblingstannen vorbei hoch auf den Berg.

Je höher wir kommen, umso schöner zeigt sich uns das gesamte weisse Bergpanorama. Genau in solchen Momenten ist mein Herz voll. Da braucht es weder den Besitz eines grossen Hauses noch einen Schrank voll schöner Kleider, hoher Schuhe oder Schmuck. Es ist egal, ob ich heute geschminkt bin oder nicht. Es interessiert niemanden, wie meine Haare heute unter dem Skihelm aussehen. Was zählt ist jeder einzelne Augenblick, der mich so frei fühlen lässt. In Gedanken frage ich mich: «Was wäre, wenn ich ab jetzt alles in meinem Leben weglasse, was mir keine gute Energie gibt? Weshalb soll ich etwas festhalten, was sich für mich nicht richtig anfühlt? Was wäre, wenn ich noch viel mehr loslasse als das Haus und alles, was in der neuen Wohnung nicht Platz hat. So könnte ich Raum schaffen für das, was mir Freude bereitet.»

Wir wechseln bei der Mittelstation von den kleinen Gondeln auf den Sessellift, um bis zum Laaxer Hausberg, dem Crap Sogn Gion auf 2220 m.ü.M. zu gelangen. Die Reissverschlüsse unserer Snowboardjacken haben wir ganz hochgezogen, und zwischen dem Kragen, der Snowboardbrille und dem Helm sind nur noch unsere Nasenspitzen zu sehen. Warm eingepackt sind wir vor der Kälte an diesem traumhaften Wintermorgen geschützt. Vom Lift herab betrachten wir die frisch präparierten Pisten und sind innerlich voller Vorfreude und hibbelig auf die ersten Schwünge. Kim schnallt bereits auf dem Sessellift den zweiten Fuss in die Bindung, damit sie sofort losfahren kann. Sie sagt zu mir: «Gell Mama, ich fahre und warte nicht, falls du wieder fotografieren willst.» Das kommt nicht von ungefähr. Vielleicht habe ich in der Vergangenheit zu oft die Geduld von Kili und Kim mit meinen Fotostopps überstrapaziert. Ich frage mich, ob es Männer und Kinder gibt, die die Fotopausen tatsächlich geniessen? Obwohl ich ein wenig enttäuscht bin, entscheide ich mich, keine hitzigen Diskussionen anzufangen. Der Tag ist einfach zu schön dafür. 

«Los geht’s» – ich strecke den Daumen nach oben und fahre an Kili vorbei, Kim hinterher auf die Piste. Es geht nur ein paar Sekunden und ich bin die letzte der Familie. Mein Mann und meine Tochter ziehen mir davon. Sie wissen, dass ich mir auf der ersten Abfahrt Zeit lasse und zwischendurch immer wieder anhalte, um die Landschaft zu bestaunen. Heute lasse ich die Kamera im Rucksack und möchte es einfach nur geniessen. 

Ich ziehe meine Spuren durch den frischen Schneeflaum, der auf der Piste liegt. Bei diesen Bedingungen fährt das Brett fast von allein. Vor mir ist die breite Piste leer. Ich tauche vollkommen ein und werde eins mit dem weissen Bergpanorama, den Puderzuckerwäldern und dem blauen Himmel. Der kühle Fahrtwind durchblutet mein Gesicht und wenn ich könnte, würde ich aus lauter Dankbarkeit und Liebe für diesen Augenblick die ganze Welt umarmen. Ich fühle mich leicht und frei. Es ist so schön, dass mir fast die Tränen kommen. Hier, genau hier, sind wir ab dem Sommer zu Hause. Bei dieser Abfahrt fasse ich den Entschluss, ab nächster Woche alles loszulassen, was mich davon abhält, mich frei und lebendig zu fühlen. Ich werde nicht nur die Gegenstände in den Händen halten und mich fragen: «Gibt mir dieser Gegenstand Energie?» oder «Raubt mir dieser Gegenstand Energie?», sondern werde jeden kleinsten Bereich in meinem Leben anschauen und entscheiden, ob ich ihn mitnehme oder freigeben möchte. Ab jetzt werde ich alles loslassen, was sich nicht nach Liebe anfühlt – sei es die Liebe zu bestimmten Aktivitäten oder Orten. Ich werde all meine Gewohnheiten hinterfragen und wenn ich nicht ein klares «Ja» spüre, wird es ein «Nein» sein und ich lasse es los. Ich bin überzeugt, dass wir nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Dingen, Tätigkeiten und Orten Beziehungen haben. Von nun an werde ich nur noch auf mein Herz und meine innere Stimme hören, denn ihnen kann ich vertrauen. Sie wissen genau, was sich für mich richtig anfühlt. Jeden Tag werde ich in mich hineinhören und mir erlauben, loszulassen, was mir nicht mehr dient. 

Meine zwei Liebsten haben vor der Berghütte auf mich gewartet. Wir sind die ersten an diesem Morgen in der warmen Stube. Währenddem Kili und Kim ein heisses Getränk an der Selbstbedienungstheke holen, gehe ich die Treppenstufen hinunter zum WC. Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Mich strahlt eine ungeschminkte Frau mit von der kalten Luft geröteten Wangen an. Die Haare sind locker zusammengebunden, einige Strähnen haben sich gelöst. Nur noch die Haarspitzen sind gefärbt. Bis zum Sommer wird das künstliche Blond herausgewachsen sein, und ich werde nicht mehr alle acht Wochen zum Coiffeur müssen. Meine Naturhaarfarbe, Braun, kommt zurück. Ich strahle, fühle mich lebendig, aufgetankt von der Natur und der Bewegung. In jeder Zelle meines Körpers fühle ich die Vorfreude auf unser Leben in den Bergen. Genau das ist mein «Warum» und meine Motivation. Genau wegen dieses Zustandes lasse ich alles andere hinter mir: Weniger Besitz – mehr Leben! 

www.miriweber.ch

 
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