Der schlimmste Tag meiner Kindheit

Aus: Silvia-Marisa Gebendinger Lebenswellen

1961 benötigte ich für den bevorstehenden Konfirmandenunterricht meine Geburtsurkunde. Ich legte die Info dazu auf den Küchentisch. Kurz darauf baten mich meine Eltern zu einem Gespräch ins Wohnzimmer. Das war sehr merkwürdig und ich wurde nervös. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Mein Vater ergriff das Wort: «Zuerst musst du wissen liebes Silveli, dass wir dich sehr, sehr lieb haben. Bitte denke immer daran. Also, ich mache es jetzt kurz und schmerzlos. Wir sind nicht deine Eltern. Mami ist deine Grossmutter, ich bin der Ehemann deiner Grossmutter und dein Adoptiv-Vater. Deine Schwester Tosci ist deine Mutter. Wir wissen, dass das jetzt alles sehr schwierig ist und es tut uns sehr leid, dass wir nicht schon viel früher den Mut hatten, mit dir darüber zu reden.» Ich musste Luft holen, verstand nichts mehr, war wie gelähmt und geschockt, hatte gefühlt tonnenschwere Steine im Magen. Ich zitterte innerlich und hatte Schweissausbrüche, die Tränen liefen in Bächen runter. Von einer Sekunde auf die andere brach meine Welt zusammen. Ich war nicht fähig diese Tragödie in ihrer Ganzheit zu erfassen. Bis zum elften Lebensjahr glaubte ich, dass meine Eltern meine Eltern sind. Das ist etwas was wohl kein Kind je infrage stellt. Und nun das. Du meine Güte. Was für ein Hammer. Meine Schwester Tosci, die so viel älter war als ich und die ich überhaupt nicht mochte, sollte meine Mutter sein. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Das durfte doch alles nicht wahr sein. «Und der Vater?», wollte ich wissen. Der sei unbekannt. Das wisse niemand. «Dann wurde ich also immer angelogen?», schrie ich unter Weinkrämpfen raus. Meine «Mutter» bat mich nun sofort bei Tosci anzurufen und zu sagen – Hallo Mutti. Dann wisse sie, dass ich die Wahrheit kenne. So geschah es. Ich rief an und sagte wie mir aufgetragen wurde. Dann hängte ich wortlos auf. Was für eine Katastrophe. Die ungeliebte Schwester war also in Wahrheit meine Mutter und mein liebes Mami in Wirklichkeit die Grossmutter. Mein geliebter Vater ein Fremder. Was für ein Desaster. Niemand hat mich getröstet, niemand in die Arme genommen. Ich fühlte mich einsam, verlassen, enttäuscht, wütend und endlos traurig.

Rebellion

Ich liebte meine «falschen» Eltern weiterhin, auch wenn ich sehr wütend war. Sie waren immer noch das Beste für mich und sie hatten sich liebevoll um mich bemüht. Bei Tosci aufzuwachsen wäre eine Katastrophe gewesen, das war mir schon damals sehr bewusst. In der Zeit nach Eröffnung der Wahrheit war ich zutiefst gekränkt und enttäuscht. Nichts war mehr wie früher. Ich sagte im Kopf Tosci bis zu deren Tod, nur wenn es nicht anders ging, Mutti. Ich nannte sie in Gesprächen mit Freunden auch gerne ‚Original-Mutter‘. Ich mochte sie nie. Es gab aber auch eine Zeit, da wollte ich meine Original-Mutter besser kennenlernen. Wollte wissen, wie es dazu kam und weshalb sie mich im Spital nie besuchte. Wollte verstehen. Sie war immer sehr abweisend. Also liess ich es. Ich hasste meine Eltern für das, was sie mir angetan hatten. Wie konnten sie von mir verlangen, ehrlich zu sein und selber so zu lügen. Mein Leben ging unruhig weiter. Ich zog oft ziellos durch die Stadt, besuchte das Warenhaus, in welchem meine Mutter arbeitete und klaute in der Schulbedarfsabteilung Radiergummis, Bleistifte, Massstäbe, Zirkel so ziemlich alles, was klein genug war, um es in einer Umhängetasche verschwinden zu lassen. Ich behielt nichts für mich, sondern verschenkte es meinen Schulkameradinnen und Kameraden. Herr Schneider, mein Lehrer bemerkte, dass ich oft gedankenversunken da sass und ungewohnt viele Geschenke an meine Mitschüler verteilte. Er wunderte sich und rief meine Eltern an. Nach einer kurzen Begrüssung fragte er meine Mutter, ob ihr Kind mehr Sackgeld bekäme. «Nein, wie kommen Sie darauf», antwortete sie verwundert. Er erzählte ihr seine Beobachtungen und auch, dass ich stiller, ruhiger und etwas unkonzentrierter in der Schule sei. Meine Mutter war sehr besorgt und versprach mit mir zu reden. Sie wusste sofort, was der Grund für meine Veränderung war. Sie erlebte selber jeden Tag, wie ich frech, unbeherrscht und sehr wütend war. Und nun klaute ich auch noch ausgerechnet da, wo sie arbeitete. Sie wusste nicht wie weiter, wollte nichts Falsches machen und besprach die Situation mit Susanne Winter, einer Gesangskollegin und Kinderpsychologin. Meine Mutter erzählte ihr die ganze Geschichte. Susanne empfahl ihr, mich so schnell wie möglich in ihre Kinder-Spielgruppe zu geben. Natürlich solle sie das mir nicht sagen, da ich mich sonst weigern könnte mitzumachen. «Sag ihr, dass du sie zu einem Spielnachmittag angemeldet hast, damit sie nicht immer alleine spielen müsse». Tatsächlich mochte ich diese Nachmittage. Nach einem Monat fragte mich Frau Susanne, ob ich auch gerne einige Male alleine kommen möchte, weil sie mir dann Spiele zeigen könne, die nur zu zweit gingen, ich willigte freudig ein. So wurde ich über sechs Monate therapiert. Natürlich ohne dass ich es wusste. Schon wieder wurde ich angelogen! Und immer noch merkte niemand die Dauertragödie des sexuellen Missbrauchs. Immer freitags. Ich hatte noch Geklautes in meinem Zimmer, welches ich meiner Mutter abgeben musste. Sie sagte: «Ich bringe die Sachen in den Globus zurück. Geklautes zu behalten geht gar nicht. Ich mache das für dich. Für mich ist das ein ausserordentlich demütigender und schwerer Gang. Eigentlich solltest du das tun. Aber nun gut. Ich opfere mich.» Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Monate vergingen. Das Thema rückte in den Hintergrund. Weihnachten stand vor der Tür. Wie alle Kinder war ich wahnsinnig neugierig, was ich wohl bekommen würde. So durchsuchte ich den Kleiderschrank im Elternschlafzimmer und fand dabei das angeblich zurückgebrachte Diebesgut. Ich wurde wütend. Schon wieder wurde ich angelogen! Bei dieser Aktion wurde ich von Onkel Hans erwischt, der mir meine Ausrede abnahm. Oder auch nicht, er hatte andere Interessen. Es war Freitagabend! Mit dem Schreiben dieses Buch wurde mir meine Haltung gegenüber Unehrlichkeit bewusst. Ich hatte als erwachsene Frau eine Nulltoleranz gegenüber Lügen. Auch zu kleinen Notlügen. So etwas brauchte es im Leben nicht. Auf jeden Fall nicht in meinem. Und ich verstand weder Ironie noch Sarkasmus. Wenn ich das Wort Ironie bei Google suchte, kam folgende Erklärung: ‘Feiner, verdeckter Spott, mit dem jemand etwas dadurch zu treffen sucht, dass er es unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht’. Wer brauchte denn so etwas!

 
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