Mädchenkleider
Aus: Lotti Pfeiffer-Peyer Kinderjahre – Geisshubelzeit
Lottis Mutter legt Wert auf schöne, gute Kleider. Die beiden älteren Mädchen sind in dieser Hinsicht nicht verwöhnt worden. Sie sind ja in den Krisen- und Kriegsjahren zur Schule gegangen, und auch die finanziellen Verhältnisse der Eltern waren noch angespannter als jetzt, in der Zeit der sich anbahnenden Hochkonjunktur. Wenn das jüngste Mädchen ein neues Röckli braucht, kauft die Mutter manchmal Stoff und schickt es damit zur Schneiderin, die ihm dann das gewünschte Kleidungsstück nach Mass anfertigt. Oder aber die Mutter geht mit dem Töchterchen nach Olten ins Konfektionsgeschäft Bernheim, um etwas Schönes zu kaufen. In diesem Geschäft wird die Kundschaft immer von Herrn Bernheim persönlich begrüsst und verabschiedet. Wehe aber der Verkäuferin, die es nicht schafft, der Kundin etwas zu verkaufen!
Mädchen tragen immer Röcke, entweder als Jupe und Pulli mit Schürze oder ein ganzes Kleidli, ebenfalls geschützt mir einer Schürze. Am Sonntag werden die neueren Kleider angezogen, zur Feier des Tages ohne Schürze. In der Schule gilt das Gebot «Mädchen tragen keine Knabenkleider». Nur bei grosser Kälte und viel Schnee dürfen Mädchen in Skihosen (Pluderhosen mit Elastikband unter den Füssen durch) das Schulhaus betreten. Mit 14 Jahren erwirken die Mädchen von Lottis Klasse eine Bewilligung für das Tragen von langen Hosen auf der Schulreise. Nicht alle Eltern sind von dieser «neuen Mode» begeistert!
An den Füssen tragen Mädchen und Knaben meistens Halbschuhe. Im Sommer bekommen viele Kinder noch ein Paar Sandalen oder Sandaletten und im Winter ein Paar gefütterte, hohe Winterschuhe oder -stiefel. Kinder, die Ski fahren, müssen auch passende Schuhe haben für die Skibindung, die aber noch sehr einfach ist. Die Skischuhe können auch als Wanderschuhe eingesetzt werden.
Schuhe kaufen ist etwas ganz Besonderes. Der Ledergeruch im Laden hat etwas Luxuriöses. Zudem wird man auch als Kind bedient wie eine Fürstin. Man setzt sich auf einen Stuhl, die Mutter auf den Platz daneben, und Herr Jäggi holt in einem der vielen Gestelle mit Schuhschachteln verschiedene Modelle, von denen er denkt, dass sie passen. Das Mädchen schlüpft mit Hilfe von Herrn Jäggi in ein Paar nach dem anderen, steht auf, geht ein paar Schritte hin und her, gibt sein Urteil über Wohlbefinden und Gefallen ab. Der Schuhverkäufer berät, nennt Vor- und Nachteile der einzelnen Schuhe, und zuletzt entscheidet die Mutter, welches Modell gekauft wird. Ganz neu ist in den 50er-Jahren, dass man beim Schuhe kaufen in einem Apparat mittels Röntgenstrahlen schauen kann, wie der Fuss in den neuen Schuh passt. Etwa nach zehn Jahren verschwinden diese Apparate wieder aus den Schuhgeschäften, weil man zur Einsicht kommt, dass die Röntgenstrahlen doch nicht so harmlos sind.
Mit den neuen Schuhen in der Schachtel und einem mit Gas gefüllten Luftballon verlassen Mutter und Tochter den Schuhladen. Dem Mädchen ist klar, dass die neuen Schuhe zuerst am Sonntag getragen werden. Für werktags genügen noch die alten, die je nach Bedarf geflickt werden müssen. Zum Flicken aber werden Herr Ingold oder Herr Hofer berücksichtigt. Beide Schuhmacher sind mit Lottis Mutter zur Schule gegangen. Zu Ingolds geht Lotti besonders gern. Erstens wohnen sie auch auf dem Geisshubel und zweitens hat es auf der Laube zum Eingang verschiedenfarbige Glasscheiben, durch die man die Welt in allen Farben bewundern kann.
Ingolds Tochter heisst auch Lotti. Sie ist es, die der kleinen Namensvetterin zeigt, wie das geht mit dem Lesen. So kommt es, dass Lotti die Kleinere am Anfang der Schulzeit bereits das halbe Erstklass-Lesebuch auswendig zitieren kann, so zum Beispiel folgendes Versli:
Ig und mi Bäri, mir hend enand gärn.
Är isch mit der Isebahn cho vo Luzärn.
Är het bruni Ouge, es Fäu wie ne Löi,
Het vier Bei zum Springe und ig nume zwöi.
Der Umgang mit Kleidern und Schuhen ist aber bewusst und sparsam. Etwas Neues wird erst gekauft, wenn das Alte zu klein oder «ausgehudelt» ist. Als Lotti auf der Velotour mit Vreni in der achten Klasse das neue orange Wolljäckchen verliert, muss das Mädchen zur Strafe die Ärmel zu einem neuen Teil im Patentmuster selber stricken! Eine Riesenaufgabe für die Jugendliche, die ja in der Arbeitsschule nicht zu den Fleissigen gehört. Zum Glück strickt Schwester Dora den Rest. Dass Lotti aber am 1. August, als die Nachbarskinder das gesammelte Holz zum Augustfeuer aufschichten, zu Hause bleiben und stricken muss, ist für die Jugendliche schwer zu ertragen.
An den Beinen tragen die kleineren Mädchen im Winter handgestrickte Strümpfe, die oben an der Aussenseite einen Knopf haben, über den man ein elastisches Knopfloch (es gibt zu diesem Zweck extra Knopfloch-Elastikbänder) zieht. Das elastische Band ist an einem gehäkelten «Gstältli» befestigt, das wie ein kleines Gilet über dem Unterhemd getragen wird. (Auch die Buben tragen im Winter unter den kurzen Hosen Strümpfe nach der gleichen Methode.) Nur für die ganz kleinen Kinder hat man Strumpfhosen, ebenfalls handgestrickte, zur Verfügung. Das «Gstältli» wird in der vierten oder fünften Klasse abgelöst von einem Gummischlüpfer, der unter der Unterhose getragen wird, damit man ihn nicht bei jedem Toilettengang abstreifen muss. Die Strümpfe sind nun etwas dünner, aber immer noch aus Wolle, aber maschinengestrickt. Befestigt werden sie mit Strumpfhaltern, die am Gummischlüpfer angenäht sind.
Lottis Mutter schenkt ihrem jüngsten Töchterlein dann die ersten Helanca-Strümpfe, als das Mädchen etwa zwölf Jahre alt ist. Helanca ist ein neues, synthetisches Gewebe, dünn und doch robust und sehr elastisch. Lotti trägt sie nur zum Sonntagsrock und fühlt sich damit zuerst gar nicht wohl. Es hat das Gefühl, bei jedem Schritt seien die Beine von einem kalten Windzug umspült. Aber wie das so ist, man gewöhnt sich an alles, so auch mit der Zeit an die noch dünneren, beinfarbigen Nylon Strümpfe, die die meisten Mädchen in den oberen Schulklassen sogar am Werktag tragen. Laufmaschen werden mit Seife oder Nagellack betupft, um sie zu verkleben, oder man trägt die Strümpfe so, dass die hellen Bahnen an den Beinen nicht gerade auffallen. Die Strümpfe sind relativ teuer und werden nicht laufend ersetzt. Nylon-Strumpfhosen kennt man noch nicht während Lottis Schulzeit, die Mädchen haben also immer eine nackte Zone zwischen Strümpfen und Unterhosen. Wenn es ganz kalt ist, wird noch eine wollene Unterhose mit einem kurzen Bein über der baumwollenen getragen.
Im Frühling werden die Strümpfe jeweils im Schrank versorgt, jetzt sind die Kniesocken an der Reihe. Diese sind wiederum handgestrickt und entweder beige-braun oder weiss, wie die Strümpfe auch. Die kurzen Sommersöckchen aus Baumwolle werden in verschiedenen Farben gestrickt.
Es ist Tradition, dass bei einem Todesfall in der Familie die Frauen ein Jahr lang schwarze Kleider tragen, Mädchen bis zur Pubertät wenigstens schwarze Schürzen. Lotti findet beim Durchwühlen einer Schublade in der Kommode zwei schwarz-weisse Schürzen, die die grossen Schwestern wohl nach dem Tod der Grossmutter getragen haben. Ausgerechnet zur Hochzeit einer ehemaligen Hausangestellten will Lotti nun eine dieser Schürzen tragen! Kinder gehen als Zaungäste nach Möglichkeit zu jeder Hochzeit, die von den Kirchenglocken angezeigt wird. Sie warten vor der Kirche, bis die Hochzeitsgesellschaft herauskommt und vor dem Besteigen des Cars für den anschliessenden Ausflug in farbiges Papier verpackte «Hochzytstäfeli» (Feuersteine) unter die Kinder wirft. Die Mädchen und Buben fallen über die bunten Steine her wie die Hühner über frisch gestreute Kerne. Ausgerechnet zu einem dieser freudige Anlässe trägt Lotti mit Stolz eine Trauerschürze, obwohl die Mutter vehement dagegen war.
Als das Mädchen ein paar Jahre später, nach dem unerwarteten Tod des Vaters, schwarze Kleider tragen muss, findet es das gar nicht mehr lustig. Am Tag nach dem traurigen Ereignis fahren Mutter, Dora und Lotti nach Olten, um bei Bernheim schwarze Kleider einzukaufen, dazu schwarze Strümpfe und Schürzen. Ein niederdrückendes Erlebnis für die 15-Jährige. Weil die Mutter nicht so streng ist, darf Lotti nach einem halben Jahr die Trauerkleider langsam wieder ablegen. Das erste Kleidungsstück nach dieser Phase ist eine schwarz-graue Halbschürze mit vier bunten Taschen in Herzform. Die Schülerin kommt sich vor, als ginge sie zur Fasnacht.