Ökonom
Aus: Frédéric Leuenberger und Daniel Schmuki , 690 Tage
Der Lebensmittelpunkt eines Menschen ist zumeist seine Familie, also die Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft, in der er lebt. Im antiken Griechenland sprach man von Oikos, wovon sich der Begriff der Ökonomie, aber auch derjenige der Ökologie ableitet. Dies mag sonderbar anmuten, scheinen doch Wirtschaft und Umwelt in den letzten Jahrzehnten nicht auf demselben Nährboden zu gedeihen.
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Daniel: Die Ökonomie ist eine eigenartige Wissenschaft. Ich maße mir dieses Urteil an, denn ich bin ausgebildeter Ökonom. Man hat mich gelehrt, dass sie eine Sozialwissenschaft sei. Dabei sind zwei Punkte aus meiner Sicht hervorzuheben: (1) sie ist keine exakte respektive logische Wissenschaft, wie die Mathematik. (2) sie setzt den Menschen als handelndes Individuum in das Zentrum. Und damit versteht man auch den ersten Punkt – der Mensch ist zumeist alles andere als logisch im Handeln. Die Ökonomie lehrt uns also über die Gesellschaft. Wie handelt der Mensch, wie interagiert er mit anderen? Dies bietet Anschauungsmaterial, um ganze Bibliotheken zu füllen. Was habe ich mit einem knappen halben Jahrhundert Lebenserfahrung und dem Hintergrund eines Ökonomen bis anhin über den Menschen, die Menschen beobachtet und festgestellt? Dass es den Menschen eben nicht gibt, denn ein jeder ist – wie es so schön heißt – ein Individuum. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, da hingen überall Wahl- oder Abstimmungsplakate mit dem Slogan ‘Mehr Markt, weniger Staat’. Ich verstand nur Bahnhof. Wieso stellt man dem Markt den Staat gegenüber? Für mich hörte sich dies etwa gleich logisch an, wie wenn gestanden wäre ‘Mehr Sterne, weniger TV-Sendungen’ oder ‘Mehr Häuser, weniger Ovomaltine’.
Frédéric: Zu Beginn des Studiums der Wirtschaftswissenschaften, werden die Studierenden mit dem Konzept des Homo oeconomicus vertraut gemacht. Bald stellt sich heraus, dass die Vorstellung einer gerechteren, solidarischeren und nachhaltigeren wirtschaftlichen Zukunft durch eine Reihe verkehrter Annahmen über die menschliche Natur verhindert wird. Schließlich bekommen die Studenten im Saal praktisch während jeder Vorlesung zu hören, dass der Mensch von Natur aus eigennützig ist. Folglich ist der Markt jedem Staatssystem überlegen. Die Wirtschaftsprofessoren lehren, dass die Staatssysteme die Rolle des Nachtwächters spielen, und – wenn überhaupt – im Falle des Auftretens eines Marktversagens regulierend eingreifen müssen. Rasch bestätigt sich der Eindruck, dass die akademische Debatte an der Hochschule schon in den Keimen erstickt ist. Auch in der Öffentlichkeit herrscht damals wie heute wenig Klarheit in Bezug auf die Funktionsweise der Finanzsysteme. So gesehen, kann man jede Maße von Menschen dazu bringen, so ziemlich jede «Ovomaltine» zu schlucken. Die Staaten und Märkte lassen die Gemeinschaft im Stich. Das sagt Raghuram Rajan (*1963), Wirtschaftsprofessor an der Universität von Chicago und ehemaliger Gouverneur der Reserve Bank of India. Rajan erklärt, dass die Verschlechterung der Unterstützung für die Menschen in ihren lokalen Gemeinschaften, die ihrerseits von den Märkten und Regierungen zurückgelassen wurden, der Hauptgrund für die Zunahme verschiedener Varianten des Populismus sei, der heute seiner Meinung nach das kapitalistische Wirtschaftssystem bedroht. Solange der Schleier nicht gelüftet wird und wir nicht klarsehen, welche Kräfte im Wirtschaftssystem am Werk sind, kann keine vollständige demokratische Kontrolle erreicht werden, und die Ungleichheiten werden fortbestehen.
Daniel: Die steigenden ökonomischen und sozialen Ungleichheiten sind tatsächlich eine Herausforderung für Gesellschaften, besonders wenn sie sich für demokratische Ideale einsetzen. Die Einkommen sind immer ungleicher verteilt, das hat auch die Forschung erkannt. Dies gilt besonders für den Superstar des Kapitalismus, die Vereinigten Staaten von Amerika. Da wirken Marktkräfte, also Strukturveränderungen in der Wirtschaft, allen voran die fortschreitende digitale Welt, die sich auf die Verteilung des Wohlstandes auswirkt. Nebst der Technologie spielt auch die Globalisierung hinein. Dann gibt es aber auch das Gegensteuer der Regierungen, also der Staat, der über Intervention Gleichheit zu fördern versucht. Jeder Ökonom kennt die möglichen Instrumente hierfür: Steuern und Transferleistungen. Du siehst, heutzutage bin ich mit den Begriffen des Marktes und des Staates vertrauter. Auch was für ein Menschenbild dahinter zu stehen scheint. Der initiative, freiheitlich und leistungsorientiert denkende Mensch, also «der Aktive», der will natürlich möglichst viel Markt, weil er ihm Einkommen, Einfluss und Ansehen verspricht. Als Konsument ist er in der Lage, durch das verlockende Angebot der Marktstände zu laufen, wohlüberlegt, und greift nur dort zu, wo er für sein Geld mehr zu erhalten scheint, als die Ware gemäß Preisschild eigentlich wert ist. Und derjenige, der staatsgläubig und vermeintlich träge veranlagt ist, «der Passive», der will halt alles durch den Staat geregelt haben. Der mag nicht so richtig selbst agieren, der wartet lieber auf eine staatliche Umverteilung. Der findet als Konsument nicht von selbst die lukrativen Angebote. Er braucht jemanden, der ihm den Weg weist und ihn, wenn möglich, an der Hand nimmt, oder noch besser: an beiden Händen. Sei Dir bewusst: Menschen reagieren immer auf Anreize, also Signale. Das ist Lektion Nummer 1 in der Ökonomie. Auf dem Markt werden die Signale über Preise gesendet, genau genommen über relative Preise. Da werden Güter und ihre Werte über Preise in Beziehung gesetzt. Wird bei zwei Gütern eines teurer, dann wird das andere automatisch, ohne dass sich sein absoluter Preis ändert, relativ eben billiger. Das Wunder der Marktwirtschaft: Über das Verhältnis der Preise werden Ressourcen also in ihre beste Verwendung geführt. Man nennt dies so schön technisch auch die allokative Effizienz (aus dem Lateinischen: ad locum = an einen Ort heranführen). Und interessanterweise geschieht dies ebenfalls durch eine Hand, das berühmte unsichtbare Händchen der Marktkräfte des schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723–1790). Das ist schon fast wie in Lourdes: Wunder geschehen. Der Markt lädt aber ebenfalls zum Scheitern ein. Versuch und Irrtum – der Versuch ist also der erste Schritt zum Scheitern, eine Stolperfalle. Der österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) sprach von «schöpferischer Zerstörung», die aber nicht als Systemfehler zu betrachten sei. Der Markt bringt uns also stets viel Neues, tatsächlich, und genauso ist es, wenn wir die Marktstände wiederkehrend ablaufen. Da wird Innovatives gepriesen und gepreist. Der Markt verdammt also den Menschen nicht zum Status quo, auch wenn dieser Zustand be- stimmt am Bequemsten wäre – diese Komfortzone –, denn der Mensch mag eigentlich gar keine Veränderungen. Jede Neugestaltung eines Produktes oder eines Prozesses ist mit Erlernen neuer Regeln und Handhabungen verbunden, und dies erfordert, kostet gar eigene Energie. Der Mensch mag es vom Grunde nicht wirklich, diese gemütliche Komfortzone einfach so zu verlassen. Aber der Markt zwingt ihn. Soviel zum freiheitlichen Gedanken- gut hinter dem Deckmäntelchen der Marktwirtschaft.
Frédéric: Jawohl. Du nennst es Komfortzone, ich nenne es Harmonie. Wir lieben alle solche Zustände oder gar Phasen, wo alles rund läuft und wir überglücklich sind. Alles fühlt sich hier gut an und wir möchten am liebsten für immer darin verweilen. Aber das Leben ist wie ein Fluss. Egal, welche Phase wir gerade durchlaufen: Jede bringt uns weiter, denn bald spitzt sich die Lage weiter zu und es herrscht wieder Disharmonie, in der du keine Energie mehr hast, du erlebst sogar eine regelrechte Krise, die Dir jedoch wieder Kraft gibt, indem du neue Sachen anpackst, aus der du dich anschließend wieder neu ausrichten kannst. Komfortzonen verlangen eine große Überwindungskraft, um sich erst einmal von ihnen zu lösen. Es gibt Komfortzonen für dein Verhalten, deine Gefühle, für dein Denken und deine Überzeugungen, wie beispielsweise anderen Menschen gegenüber. Denn, wie sagt man so schön, «was dich nicht umbringt, macht dich stärker». So durchlaufen wir diese Phasen wie eine Spirale, in der wir uns um uns selbst drehen. Ein ganzes Leben lang bewegen wir uns immer wieder durch diese Phasen, ob wir es wollen oder nicht. Ohne diese Übergänge fände keine Entwicklung statt und wir würden innerlich verkümmern. Fast immer passt sich das Gehirn an unsere Umwelt an: die Umgebung unserer Kindheit, unser Elternhaus, die Werte und Regeln die dort gegolten haben, die Art, wie miteinander geredet wurde, die Gefühle, die Andere mit uns teilen und offenbaren konnten, und schließlich auch unsere Reaktionen darauf sowie die Gedanken und Glaubenssätze, die wir mitbekommen haben – ohne uns dies wirklich ausgesucht zu haben. Das Gehirn spielt dabei immer die gleichen Programme ab, die uns vertraut sind, und zwar unabhängig davon, ob diese richtig oder falsch sind. Wir wundern uns, warum wir seit der Kindheit immer die gleichen Gefühle erleben und von unserer Jugend auch im Alter sozusagen ferngesteuert werden. Zugleich haben wir Angst davor, die vertrauten Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen, der eigenen Neugier zu folgen, der inneren Stimme zu folgen, weil uns die Gesellschaft die richtigen Ziele klar vermittelt. Dies zu tun, würde vielleicht zu Konflikten führen, zu Unverständnis, vielleicht sogar zur Ablehnung. Es macht das Leben nicht einfacher, sondern schwieriger. Es birgt Risiken und kann dazu führen, dass wir Dinge oder Menschen verlieren, die unser Leben angenehm oder leicht machen.
Daniel: Der Verlust nahestehender Menschen ist etwas vom Schlimmsten, was einem widerfahren kann. Es kann einen selbst mehr treffen, als eine eigene schwere Krankheit. Weisst Du, ich habe schon öfters gedacht, dass sich «die Menschen» ähnlicher zu sein scheinen, als man aufgrund ihrer Individualität denkt. Sie alle haben absolute Grundbedürfnisse zu decken, in denen sich jeder auch im anderen wieder erkennen kann, das Bedürfnis nach Essen, Trinken, Schlaf. Paradoxerweise kann sich aber derselbe Mensch in vergleichbaren Situationen sehr unterschiedlich verhalten. Gestern lief ich einer langen Warteschlange davon, weil ich unter Zeitdruck stand. Heute würde ich diese gelassen hinnehmen, denn ich habe keine Termine. Und morgen würde ich mich zwar daran stören, aber eine Gegenstrategie entwickeln: Nimm doch Dein Smartphone hervor und prüfe kurz die Mails oder krame aus dem Rucksack eines Deiner Kreuzworträtsel und arbeite daran weiter. Dieses Vorgehen hat auch etwas Überlegtes, etwas Berechnendes. Der Mensch kalkuliert aber nicht immer, er ist nicht immer kühl rational. Es gibt auch die Intuition, das Bauchgefühl. Völlig unvoreingenommen ist der Mensch nur als Kind, er ist unschuldig. Kinder sagen stets die Wahrheit, sie sind nicht berechnend, das findet sich bereits in der Bibel: ‘La vérité sort de la bouche des enfants’. Dieses Ungebundene und Grenzenlose, diese Freiheit im Denken und Sprechen kennen Kinder ganz besonders. Im Erwachsenenalter ist der Mensch dann mit vielen Pflichten konfrontiert, und er ist alles andere als frei. Die Muse im Handeln wird zur Ausnahme. Der Lateiner bezeichnet die Entspannung und Seelenruhe als otium. Die Pflicht ist das Gegenstück der Muse und negotium daher die Verneinung der Muse. Ist es nicht wunderbar und auch sonderbar zu erkennen, dass in Englisch negotiation die Verhandlung bezeichnet. Wer also verhandelt, der hat eine Pflicht zu erfüllen. Und gerade Verhandlungen sind ein grundlegender Mechanismus der Marktwirtschaft. Aber ist diese nicht freiheitlich konzipiert?
Frédéric: Freiheit ist, wenn man nicht das macht, was alle andern machen.