Emojidemie

Aus: Heiner Renfer, Wochenworte - Wortwochen

Seuchenartig sind die sogenannten Emoticons heute verbreitet, und niemand spricht von der krankhaften Entartung, die damit unseren Sprachfertigkeiten zugemutet werden. Und in keiner Arztpraxis dieser Welt ist man willens oder in der Lage, sich derartiger degenerativer Leiden anzunehmen ...

Emoticons oder Emojis, die aus Zeitersparnisgründen mit einer einzigen Daumenbewegung in eine SMS gedrückt werden, sind Ausdruck unserer schnelllebigen Zeit. Sie sind längst salonfähig geworden und nicht nur bei den Jungen beliebt. Selbstredend findet man den englischen Ausdruck «Smiley» für den überall bekannten lächelnden Gesichtsausdruck seit dem Jahr 2000 auch im Duden.

Es ist heute also durchaus möglich, eine Mitteilung ganz ohne Buchstaben und Wörter zu verfassen. Gefaltete Hände, ein sich übergebendes Kotzgesichtlein, gefolgt von einem Steak und einem Wecker, dann Daumen nach unten, neben einem Bierglas mit abschliessend nach rechts weisendem Zeigefinger würde übersetzt etwa heissen: «Ich danke für die Einladung! Bitte denk daran, dass ich Vegetarier bin, und seit kurzem trinke ich auch keinen Alkohol mehr. Bis bald also!» Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass fortgeschrittene Emojisprachige, wie hier im Beispiel, durchaus in der Lage sind, jeweils an der richtigen Stelle das korrekte Satzzeichen zu setzen. Gross- und Kleinschreibung und die Wahl des richtigen Falls spielen glücklicherweise nur eine untergeordnete Rolle.

Nun, eigentlich sind ja Emoticons nichts völlig Neues. Wir kennen derartige Gefühlsäusserungen aus den Comics, wo mit lautmalerischen Buchstabenkombinationen ganze Geschichten erzählt werden: “HIIIIILFEEE- EEEE! Plonk! Doing! Hmpf”. Lautmalerei oder Onomatopöien in Bildergeschichten kommen sehr oft in Sprechblasen daher, und je nach Lautstärke und emotionaler Ladung wird der Schriftzug kleiner oder grösser.

Der etwas boshaft formulierte erste Abschnitt ermuntert mich andererseits aber auch, die Erscheinungsformen einer Emojidemie ganz sachbezogen zu beurteilen. Tatsache ist doch, dass unsere ganze Sprachsystematik entrümpelt und gesäubert wird. Grammatikalische Strukturen werden stark vereinfacht und verständlich, der Wortschatz wird überschaubar, Genitivgebilde bereiten kein Ungemach, und die Rechtschreibung wird zur vernachlässigbaren Lustbarkeit. Es handelt sich also bei einer Emojidemie nicht um eine Mangelerkrankung wie etwa beim Skorbut, der Zahnfleischbluten und erhöhte Infektionsrisiken zur Folge haben kann. Vielmehr lädt sie uns ein, uns an unsere prähistorischen Vorfahren zu erinnern. Es ist die einmalige Gelegenheit, uns eingehend mit ihren schnörkellos knurrenden und grunzenden Vokabeln zu befassen und uns die aussagestarken symbolhaften Wandmalereien in ihren Höhlen zu Gemüte zu führen.

In diesem Sinne werden Emojidemie und Onomatopoesie der Menschheit zu einem neuen Kulturverständnis verhelfen und zur Bestätigung beitragen, dass der Homo sapiens tatsächlich irgendwie die Krone der Schöpfung ist. Seit kurzem steht in der Emoji-Sammlung meines iPhones auch das Gesicht von Conchita Wurst zur Verfügung. Er ist ein österreichischer Travestiekünstler, der 2014 Siegerin des 59. Eurovision Song Contest in Kopenhagen wurde ...

 
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