Die Mutter

Aus: Markus Hohmann, Δ-Version

Ich heiße Sylvia und wurde am 15. April 1936 in Zürich geboren. Meine Geschichte ist schnell erzählt. Einzelkind, vom Vater mit 13 Jahren bei der Mutter sitzengelassen, Scheidungskind. Davor gab es viel Streit zwischen den beiden. Es kam auch zu Gewaltausbrüchen seitens meiner Mutter. Nach der Scheidung ließ sie ihren Frust an mir raus. Im Alter von 19 Jahren jagte sie mich aus der Wohnung. Und das wegen eines Paares roter Stöckelschuhe, die Beute eines ausgelassenen Einkaufsbummels mit meiner besten Freundin, Elvira. Wir haben uns lachend und foppend gegenseitig zum Kauf aufgewiegelt. Zu Hause schlug mir die Mutter die Schuhe laut und heftig um die Ohren. Was mir eigentlich einfallen würde, explodierte sie, und nannte mich eine Schlampe. Unüberhörbar für alle Nachbarn. Ich bin mir auch sicher, dass diese mitgehört hatten und innerlich zustimmten: «Ist sie ja auch! Eine richtige Schlampe! Was erwartet man anderes von einem Scheidungskind! Recht geschieht ihm, diesem ungezogenen Gör!»

Ausgerechnet die Nachbarn! Hinter dem falschen lächelnden «Grüezi Fräulein Meier» spürte ich jedes Mal die lüsternen Blicke des Nachbarn, wenn er mir in Abwesenheit seiner Frau absichtlich den Weg versperrte. Ich musste mich an ihm vorbeidrücken und roch seinen ekligen Atem ganz nah an meinem Gesicht. Seine Frau, wenn sie mir begegnete, schaute mich immer ganz verächtlich an und wusste von all dem wahrscheinlich überhaupt nichts. Scheinheiliges Volk!

Mein Weg zur Arbeit am nächsten Morgen war ein richtiger Spießrutenlauf. Der Kopf grün und blau geschlagen. Ich hörte die Leute hinter meinem Rücken tuscheln. Schmerzvoll war das und demütigend zugleich. Das habe ich der Mutter nie verziehen. Natürlich hätte ich zu ihr zurückgehen können, wenn ich mich bei ihr entschuldigt hätte. Doch mein Stolz ließ das nicht zu. Zu lange habe ich die Demütigungen der Mutter ertragen. Nun war Schluss. Von nun an würde ich eigene Wege gehen.

Es überrascht mich nicht, dass mein Vater Reißaus genommen hatte. 1949 ließ er sich von der Mutter scheiden. Er hatte eine viel liebere und verständnisvollere Frau gefunden. Meine Mutter wehrte sich mit Händen und Füssen gegen eine Scheidung. Das war nicht schön. Ich musste mich, vom Scheidungsrichter befragt, entscheiden, ob ich beim Vater oder bei der Mutter bleiben wollte. Dabei spürte ich ihren stechenden Blick auf mir. Ich entschied mich für sie. Ich war 13 Jahre alt und wählte die Hölle. Ich hätte es in der Hand gehabt, doch ich redete mir ein, dass es dem Vater nicht recht sein würde, sollte ich mich für ein Leben bei ihm entscheiden. Ich redete mir ein, dass er sein neues Glück nicht mit mir belasten wollte. Insgeheim wünschte ich mir so sehr, er würde meine Verzweiflung sehen und eingreifen und mich retten. Für mich bedeutete meine Entscheidung die Fortsetzung des Krieges mit meiner Mutter, der in meiner Verbannung gipfelte.

Ich habe mir damals geschworen, mich nie scheiden zu lassen, sollte ich eines Tages einmal heiraten und Kinder kriegen. Am besten gar nicht heiraten! Und wenn doch, sollte sich keines meiner Kinder jemals zwischen mir und seinem Vater entscheiden müssen.

Der Vater meldete sich nach der Scheidung nur noch selten. «Du musst verstehen», meinte er, «deine Mutter und ich, wir streiten uns nur.» In alten Fotos habe ich eine Karte gefunden, die er Ende Juni 1950 an seine Familie geschrieben hatte. Seine Familie, das waren seine Eltern, seine drei älteren Schwestern und ein Monstrum von einem Hund, an dessen Name ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann. Ich erhielt keine Karte. Meine Mutter und ich gehörten nicht zur Familie. Ich entschuldigte den Vater mit der Vorstellung, dass er nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen wollte. Die Karte war aus Paris, der Stadt der Liebe. Er sieht glücklich aus darauf. Und verliebt. Adressiert war sie an die Mühlebachstrasse 25 in Zürich, seinem Elternhaus. Seine neue Frau Erna ist auch darauf zu sehen. Sie hat mitunterschrieben.

Aus Sicht meiner Mutter war Erna der Grund am Scheitern ihrer Ehe. Dass es an ihr und ihrem Verhalten gelegen haben könnte, lehnte sie kategorisch ab. Hinter «kategorisch» verbarg sich auch Gewalt. Seelische und körperliche. Seit dem Weggang – besser – der Flucht meines Vaters rächte sich die Mutter an jeder Frau. Noch schlimmer wurde ihre Rache, wenn die Frau jung und schön war und ein unbelastetes Leben vor sich hatte. Ganz schlimm, wenn die junge, schöne und lebenslustige Frau ihre Tochter war. An mir rächte sich die Mutter besonders brutal, denn ich entwickelte mich schon in jungen Jahren zu einem Männerschwarm und genoss es, wenn ich außerhalb ihrer Kontrolle war. Ich sollte leiden für die Flucht meines Vaters. Ich sollte spüren, dass ich der Grund für das Unglück der Mutter war und auch dafür, dass sie keinen neuen Mann finden würde. Ich war eine lästige Hypothek, ein Klotz am Bein, der sie auf dem Beziehungsmarkt wertlos machte. Wer will schon eine Mutter mit Kind? Das ließ sie mich überdeutlich spüren. Dazu kommt noch unser Größenunterschied. Ich überragte sie schon in jungen Jahren um einen Kopf. Das brachte sie in Rage und erhöhte ihre Brutalität im Umgang mit mir. Im Gegensatz zu meiner Mutter konnte ich Erna nicht böse dafür sein, dass mein Vater sich zu ihr hingezogen fühlte. Wie sollte ich? Irgendwie verstand ich es. Sie war ein Engel, verständnisvoll, weich und lieb. Und sie tat meinem Vater gut. Wer wählt schon die Hölle, wenn er den Himmel haben kann. Handkehrum war sie der Grund, warum er mich in der Hölle zurückgelassen hatte. Ich hatte keine Wahl.

Gut, so schnell ist meine Geschichte also doch nicht erzählt. Einige Details gibt es da schon noch anzufügen. Zum Beispiel soll es da einen Bruder gegeben haben vor mir, der bei der Geburt gestorben sei. 1930 soll das gewesen sein. Er wäre also sechs Jahre älter als ich. Ich weiss nicht, ob ihm ein Name gegeben wurde. Fakt ist, ich hätte gerne einen großen Bruder gehabt. Der hätte mich sicher beschützt und verteidigt. Der wäre sicher nicht davongelaufen wie mein Vater. Hinter ihm hätte ich mich verstecken können. Vor der Mutter.

Heute frage ich mich immer wieder, weshalb sich mein Vater damals nicht um mich gekümmert hat. Warum hat er nicht eingegriffen? Warum hat er mich allein gelassen? War ich ihm nichts wert? Ich habe ihn nie gefragt. Ich habe mich nicht getraut. Ich versuchte, meinem Vater nicht böse zu sein. Ich versuchte, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Meiner Mutter habe ich nie verziehen. Ich stellte mich gegen sie und beschloss, ihr zu zeigen – mehr noch – ihr zu beweisen, dass ich eine bessere Mutter sein werde, als sie es jemals gewesen war, sollte ich heiraten und Kinder kriegen. Unerklärlicher- weise zog mich alles in diese Richtung. Es war wie ein Sog. Ich wollte ihr alles brühwarm unter die Nase reiben. Sie würde schon erkennen und einsehen! Ihr würde schmerzhaft bewusst werden, welche schrecklichen Fehler sie begangen hatte, und mich tränenreich um Verzeihung bitten. Davon träumte ich oft. Bis dies geschehen würde, bleibt sie für mich gestorben.

Manchmal beschleicht mich die Frage: «Was, wenn ich ein Junge geworden wäre?» Ich muss zugeben, ich wäre lieber als Mann auf die Welt gekommen. Männer haben alle Freiheiten, und sie können tun und lassen, was sie wollen. Sie können sich scheiden lassen und neue Familien gründen. Sie können die alten Familien verlassen, wie wenn nichts gewesen wäre. Sie können so viele Frauen haben, wie sie wollen. Und doch wäre ich bestimmt ein ganz anderer Mann. Ein Mann, der das Elend sieht und zum Rechten schaut. Auf jeden Fall kein Mann, der sein Kind in den Klauen einer bösen Frau zurücklassen würde. Das würde ich nie machen. Nie! Ich würde mich einsetzen für die Opfer dieser Welt.

Meine Mutter hieß Hilda – Hilda Hurt. Nicht BB, wie Brigitte Bardot oder CC, wie Claudia Cardinale, nein, HH, wie Hilda Hurt. Sie war das jüngste von vier Kindern. Nesthäkchen mit vier Jahren Abstand zur älteren Schwester. Sie war klein gewachsen, dürr und giftig wie Unkraut. Welche Tragödie mag sich wohl hinter ihrem Leben verstecken?! Ich weiss es nicht. Über meine Großeltern mütterlicherseits weiss ich gar nichts.

Mein Vater hieß Hans. Er war der jüngste von vieren und hatte noch drei ältere Schwestern. Er war Nesthäkchen, Lausbub und Thronfolger zugleich. Er konnte sich alles erlauben. Seine Eltern hätten es sicher noch weiter versucht, wenn er nicht gekommen wäre. Einen Stammhalter brauchte es unbedingt. Er musste sich wie ein König gefühlt haben, dass er mit seiner Geburt so viel bewirkt hatte.

Sein Vater, ein echter Zürcher Meier, war Verkehrspolizist und regelte den Verkehr am Bellevue von seiner Verkehrskanzel aus. Mein Vater, der Lausbub, fuhr in jungen Jahren wiederholt im Auto seines Vaters ohne Führerschein an diesem vorbei. Er wusste genau, dass sein Vater die Verkehrskanzel nicht verlassen durfte und somit nichts unternehmen konnte. Es blieb ihm bloß, hilflos und empört in seine Trillerpfeife zu pusten. Doch mein Vater setzte lachend und winkend zu einer weiteren Runde ums Bellevue an.

Die älteste Schwester meines Vaters wurde liebevoll Mineli gerufen. Sie heiratete Dölf, einen erfolgreichen Selfmademan mit dickem Bauch, stinkendem Stumpen und nasaler Stimme, die in den Ohren schmerzte, wenn er sprach. Dölf hatte ein Händchen fürs Geld und wurde als Vermögensverwalter reich. Er verwaltete mit Erfolg den schweizerischen Teil des Vermögens von Carlo Ponti und dessen Frau Sophia Loren.

An der Beerdigung meines Vaters im Herbst 1980 fiel eine reife Kastanie auf Minis Kopf. Sie ging deswegen beinahe k.o. Das löste viele «Jöös!» und «Jesses nei au!» und «Gaht’s Mineli?» bei den Anwesenden Trauergästen aus. Sie genoss es sichtlich, so viel unerwartete Zuwendung zu bekommen. Dölf winkte verächtlich ab und meinte: «Meine Frau wieder! Stellt sich genau dorthin, wo es sicher Pech regnet, wenn ich nicht aus sie aufpasse!» Er hatte sie nie für ganz voll genommen. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Mein Mann und meine Söhne mussten auch lachen.

Die beiden anderen Schwestern des Vaters hießen Elisabeth (Liseli) und Hedy. Sie blieben ein Leben lang unverheiratet und wohnten zusammen in einer hübschen Stadtwohnung an der Bergstrasse. Elisabeth war die mittlere der drei Schwestern und die schönste von ihnen. Sie wollte so gar nicht reinpassen in die Familie. Während Mini und Hedy klein und dunkelhaarig waren und fast aufs Haar genau ihrer Mutter glichen, war Elisabeth groß gewachsen, blond und schlank. Ein Männerschwarm. Sie verliebte sich in jungen Jahren in Gaston, einen charmanten Beau, der ihr das Wasser reichen konnte. Es muss eine Liebe wie im Märchen gewesen sein. Doch sie endete tragisch. Gaston verstarb aufgrund einer Krankheit. Völlig unerwartet. Der Schmerz musste unendlich groß gewesen sein für Elisabeth. Gaston blieb ihre tragische und unerfüllte Liebe. Sie ging danach auf keine Avancen irgendwelcher Männer mehr ein. Hedy blieb immer im Schatten von Elisabeth. Immer etwas neidisch auf ihre attraktive ältere Schwester und doch auch irgendwie froh, dass diese sie nicht als einzige unverheiratet zurückließ.

Ich habe mich wiederholt gefragt, ob meine Eltern nur geheiratet haben, weil die Mutter schwanger gewesen war. Ob mein Bruder während der Schwangerschaft oder bei der Geburt gestorben war, habe ich nie erfahren. Darüber schwiegen sich meine Eltern aus. Für mich blieb er ein Phantom und unerreichbar. Ich erlebte die Eltern die meiste Zeit miteinander streitend. Es war unerträglich. Sie haben mich nicht gesehen. Einen Jungen verloren, ein Mädchen bekommen. Waren sie böse auf mich, weil ich ein Mädchen war? Sicher waren sie unzufrieden darüber? Wäre der Vater bei der Mutter geblieben, wenn ich ein Junge geworden wäre? Oder hätten sie sich mit einem Sohn begnügt? So oder so – ich hatte schon von Geburt an verloren.

Vor der Scheidung der Eltern herrschte Krieg zwischen ihnen. Außerhalb unseres Landes herrschte Krieg in Europa. Während der 2. Generalmobilmachung im Mai 1940 wohnten wir vorübergehend im Tessin. Der Vater war dort stationiert. Ich war da erst vier Jahre alt und kann mich kaum noch daran erinnern. Doch mein Sprachtalent zeigte sich da bereits. Als sich die Eltern scheiden ließen, war ich 13 Jahre alt. Der Krieg war vorbei.

Damals war es nicht einfach für geschiedene Frauen. Sie wurden stigmatisiert. Ihre Kinder auch. Nach der Scheidung der Eltern herrschte kalter Krieg. Zuerst zwischen dem Vater und der Mutter. Danach zwischen Ost und West. Zwei unvereinbare Systeme kämpften um die Vorherrschaft über die Welt. Eine Integration war nicht möglich. Ich bereue noch heute, mich vor Gericht für ein Leben bei der Mutter entschieden zu haben. Irgendwie habe ich mir gewünscht, mein Vater würde mich retten und zu sich und zu seiner lieben Frau holen. Erna, die Liebevolle. Erna die Gute. Erna, der Gegenentwurf meiner Mutter.

Ich machte die Kaufmännische Lehre. Meine beste Freundin, Elvira, und ich verdrehten den Jungs schon früh den Kopf. Wir hatten Pläne, wollten als Sozia auf den Piaggios unserer wechselnden Liebhaber die Welt entdecken und frei sein. Wir waren Blutsschwestern, gingen zusammen durch dick und dünn. Wir versprachen einander hoch und heilig, zusammen auf Weltreise zu gehen, bevor wir heiraten und Kinder kriegen würden. Wenn überhaupt heiraten. Die Welt lag uns zu Füssen, die Männer auch. Sollte es wider Erwarten doch dazu kommen, sollten wir entgegen allen Schwüren später doch einmal heiraten und Kinder kriegen, versprachen wir uns, gegenseitig Gotten unserer erstgeborenen Kinder zu werden. Es war also alles klar. Wir hatten beide die Lehre erfolgreich abgeschlossen, hatten unsere Stellen in Büros, sparten für die Weltreise und genossen die Abende und Wochenenden bei Wein, Männern und Gesang. Nichts konnte uns bremsen. Die Männer umschwärmten uns wie Motten das Licht. Doch wir ließen uns von keinem einfangen und in Eheketten legen.

Ich hielt mein Versprechen nicht und wurde schwanger. Und dann noch mit diesem hochnäsigen Deutschen, der im gleichen Betrieb arbeitete. Als Maschinenkonstrukteur, wie er immer richtigstellte, wenn ich das Wort Maschinenzeichner in den Mund nahm. Mit Konstrukteur wollte er seinen Beruf nobel machen und sich grösser als mich kleine unwissende Schweizerin. Er wollte wohl auch seine Ambitionen unterstreichen. Hier in der Schweiz hieß dieser Beruf Maschinenzeichner. Aber er wollte wohl etwas Besseres sein. Aufgeblasener deutscher Gockel! Am Firmen-Skitag rief er mir über die Piste zu, ob wir «Duzis» machen wollten. Alle hörten es und ich rief «Ja», während ich rot anlief. Und als ich ihn am Montag im Büro voller Freude mit einem «Guten Morgen, Heinz!» begrüßte, schaute er mich empört an und meinte, was mir eigentlich einfalle, ihn zu duzen. Auch das hörten gefühlt alle in der Firma, und ich war sprachlos und wurde wieder rot im Gesicht. So ein Arsch! Mich auf diese Weise zwei Mal in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Und doch... Irgendwie fühlte ich mich angezogen, von diesem deutschen aufgeblasenen Wichtigtuer.

Habe ich etwa erlittenes Leid ungefiltert weitergegeben? Genau das wirft mir mein ältester Sohn später vor. Diese Undankbarkeit! Dabei habe ich mir den Arsch aufgerissen, dass er und seine beiden jüngeren Brüdern es besser haben als ich es mit meiner Mutter hatte in meiner Kindheit. Ich war mehrere Male drauf und dran, den Bettel hinzuschmeißen und einfach davonzulaufen. Aber ich habe es nie getan. Na gut, ich drohte wiederholt damit. Ich habe die tränenreiche Verzweiflung der Kinder mitbekommen, als ich einmal einfach stumm aufgestanden war und die Wohnung wortlos verlassen hatte. Das sollte sie lehren! Ihr herzerweichendes Geschrei bei meiner Rückkehr war mir ganz recht und schmeichelte meinem Ego. Der Erstgeborene hätte doch wissen müssen, dass ich diese Drohung niemals umgesetzt hätte. Doch er hat mir das nie verziehen. Dabei hatte er doch keine Ahnung, wie ich unter meiner Mutter gelitten habe. Dieser undankbare Hund.

Habe ich erlittenes Leid ungefiltert weitergegeben? Zweifel steigen in mir hoch. Doch nun ist es zu spät. Nun hilft nichts mehr. Ich würde es nicht ertragen, wenn alles, woran ich geglaubt und wofür ich gekämpft habe... Ich wische den Gedanken weg und sterbe am 31.12.2011 an Krebs.

Der Erstgeborene kann sich nicht mehr von mir verabschieden. Ich habe es verhindert. Ich habe seinen Vater und seine Brüder darauf eingeschworen, ihm nichts von meiner Krankheit zu erzählen. Sie mussten es mir hoch und heilig versprechen. Er bleibt die ganze Zeit über im Unwissen darüber, dass ich sterbenskrank bin. Recht geschieht ihm! Wer nicht mit mir, der ist gegen mich. Wenn er mich nach meinem Befinden erkundigte, antwortete ich «Gut!» und freute mich, dass ich ihn auf diese Weise bestrafen konnte.

Keiner in der Familie durfte ihm außerdem erzählen, dass ich mich gegen eine weitere Chemotherapie entschieden hatte und im Sterben lag. Er sollte meine Rache spüren. Ich werde gewinnen! Doch mein Mann war viel zu schwach, um auf meiner Linie gegen den Ältesten zu bleiben. «Warum meldest du dich nie!» hörte ich ihn in den Hörer rufen. Er hat es nicht mehr ausgehalten und überschüttete den Ältesten mit Vorwürfen, als der anrief und fragte, wie es uns gehe. Der Sohn ließ diese Vorwürfe nicht auf sich sitzen und konfrontierte meinen Mann. Der brach schließlich zusammen und sagte: «Du, s’Mami liit im Stärbe!» Das überrascht mich nicht. Überhaupt nicht. Das alles kratzte mich da auch nicht mehr. Es war bereits zu spät. Ich habe gewonnen. Der Erstgeborene findet mich im Sterbebett vor, vollgepumpt mit Morphium und nicht mehr ansprechbar.

 
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Emojidemie

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Vorwort und die Jahre im fremden Land [Ausschnitt]