Vorwort und die Jahre im fremden Land [Ausschnitt]
Aus: Claire Trächslin, Immer wieder Aufbruch
Grossvater sagte einmal: «Wenn sich niemand mehr an uns erinnert, dann sind wir wirklich tot.» Erinnerungen aufzuschreiben hilft flüchtige Augenblicke festzuhalten, die uns geprägt haben, Erfahrungen zu reflektieren und auch zu entdecken, dass die kleinen Geschichten über das Schicksal jedes Einzelnen auch verbunden sind mit den grossen Geschehnissen in der Welt.
Ich schreibe hier nicht über meine Erinnerungen, sondern über die besonderen Erfahrungen meiner Mutter, die als sehr kleines Mädchen mit ihrer Familie aus der Schweiz über den grossen Atlantik mit dem Schiff nach Südamerika gereist war und dort die ersten Lebensjahre in dieser so ganz anderen Welt verbrachte.
Meine Mutter hat viele Erinnerungen sehr detailliert, handschriftlich, auf Italienisch in verschiedenen Ringbüchern abgelegt, und vieles hat sie mir auch erzählt.
Schon immer hatten sie historische Geschichten – wahre Geschichten – sehr interessiert. Sie vergass die Zeit beim Durchstöbern alter Briefe, Zeitungsausschnitte, alter oft vergilbter Fotos. So, wie bereits ihre Eltern, hatte sie schon immer die Gewohnheit alles aufzubewahren.
In den Geschichtsbüchern finden wir die Information, dass zwischen 1857 bis ca. 1940 ungefähr 600'000 Auswanderer nach Argentinien gereist sind. Darunter waren etwa 300'000 Italiener, 100'000 Spanier und die restlichen kamen aus verschiedenen Ländern aus Europa, zum Beispiel aus der Schweiz. Die meisten Auswanderer hielten sich in den grösseren Städten auf, wie Buenos Aires, Mendoza, Rosario, Cordoba, Santa Fè. Hier fanden sie die grössten Entwicklungsmöglichkeiten. Sobald die Zuggeleise weiter nach Norden gelegt wurden, fuhren die Züge auch nach Tucumàn.
Am 28. Februar 1891 wurde der durchgehende Zugverkehr zwischen Buenos Aires und San Miguel de Tucumàn eingeweiht. Der Zug hielt an allen Bahnhöfen und die Fahrt dauerte ungefähr 36 Stunden. Ab 1896 verkehrte wöchentlich einmal ein Schnellzug, der die Reisezeit auf 26 Stunden verkürzte. Etwa gleichzeitig erhielt der Bahnhof Tucumán Anschluss an das schmalspurige Netz der Ferrocarril Central del Norte, das damals bis San Salvador de Jujuy und Salta reichte, ein erster Schritt zur Verlängerung der Verbindung nach Bolivien. Metàn liegt im Norden Argentiniens und ziemlich genau zwischen Tucumàn und Salta.
In der Glanzzeit der Eisenbahn wurden auf der Verbindung mehrere Schnellzüge angeboten. Von 1914 an, fuhr ein Zug Richtung Norden. Sein Name war: Estrella del Norte. Jeweils am Nachmittag verließ dieser Zug Buenos Aires. Die Fahrt im Estrella del Norte nahm in den 1970er Jahren, laut Fahrplan, etwa drei Tage in Anspruch, dauerte aber in der Realität oft länger. Verspätungen von 12 Stunden waren nicht ungewöhnlich. Sowohl die Eisenbahninfrastruktur als auch die Zugwagen befanden sich damals in einem schlechten Zustand.Anlässlich der Einstellung des gesamten Eisenbahnfernverkehrs in Argentinien wurde 1993 auch die Linie Estrella del Norte aufgegeben.
Man darf nicht vergessen, dass zwischen Buenos Aires und Tucumàn 1300 Kilometer liegen und dann weiter nach Jujuy sind es total 1'800 Kilometer – unglaubliche Distanzen!
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Schweiz «auswandern» ein grosses Thema. In den Zeitungen wurde propagiert, dass es für die Zukunft des Landes von Vorteil wäre, wenn neue wirtschaftliche Verbindungen und Beziehungen im Ausland geknüpft werden könnten. Es wurde sogar erwähnt, dass Argentinien ein ideales Land wäre, da es eine kleine Bevölkerung, fruchtbares Land und ein gesundes Klima habe. Viele wanderten auch nach Kalifornien oder Kanada aus. Die Tessiner bevorzugten Südamerika. Der Kanton Tessin war zu jener Zeit einer der ärmsten in der ganzen Schweiz. Die Industrialisierung mit den vielen neuen Arbeitsplätzen entwickelte sich vor allem in England, Deutschland, Frankreich und der deutschen Schweiz. Es gab im Tessin nicht viele Arbeitsmöglichkeiten, ausser in der Landwirtschaft (Ackerbewirtschaftung, Fischerei). Viele Familien waren damals auch kinderreich. Es war daher für viele naheliegend, ihr Glück und auch die Möglichkeit zum Überleben im Ausland zu suchen. Alle Emigranten hatten, nebst der materiellen Notwendigkeit auch eine grosse Portion Abenteuerlust. Sie erhofften sich Reichtum und Wohlstand! Die Auswanderung nach Argentinien intensivierte sich ab 1880. Bis dahin verkehrten Segelschiffe über den Atlantik. Es gab schon Dampfschiffe, die von Le Havre aus nach New York fuhren, aber erst ab 1880 fuhren auch Dampfschiffe von Genua nach Buenos Aires. Der Kapitän Rinaldo Vianello (1848-1896), der die erste Überfahrt nach Argentinien gemacht hatte, bekam dafür eine goldene Erinnerungsmedaille. Er ruht in einem Grab auf dem Friedhof in Morcote. Er war den «Morcotesi» gut bekannt, da er ein Mädchen - Ersilia Fossati - aus einer Patrizierfamilie aus Morcote geheiratet hatte.
Ich weiss nicht genau, wann mir meine eigene Existenz bewusst wurde. Ich erinnere mich an eine Episode, da war ich ungefähr drei Jahre alt. Wir waren im Patio, im Innenhof unseres Hauses. Es tobte ein starkes Gewitter, der Wind fegte über das Land. Wir sassen im gedeckten Teil des Patios, aber der Regen prasselte so stark runter, dass wir alle nass wurden. Ich versuchte mich in Sicherheit zu bringen, aber ich schaffte es nicht. Meine Mutter war damit beschäftigt alles Herumliegende in Sicherheit zu bringen. Ich war völlig verängstigt und fühlte mich erst besser, als meine Mamma Zeit hatte, mich in die Arme zu nehmen.
Rückblickend sehe ich mich im schönen, neuen Haus, das mein Vater bauen liess. Daneben liess er ein Kino errichten. Es waren glückliche Jahre! Ich weiss nicht, ob sie auch für meine Mutter glücklich waren. Aber wann und wo war meine Mutter jemals glücklich? Ich glaube sie vermisste ihren Vater in Italien sehr. Sie erzählte mir: «Sieh mal, einer dieser Sterne am Nachthimmel ist das Auge deines Nonnos in Italien, der immer zu uns schaut.» Mir gefiel es mich im zweiten Patio aufzuhalten. Dort waren die Küche und die Vorratskammern, das Reich der Köchin und der Haushalthilfe, die Coyas waren. Die Coyas sind Nachfahren der Indios. Metàn ist in der Provinz Salta, wo es im Vergleich zu anderen Provinzen in der Bevölkerung sehr viele Nachkommen von Indios gibt. Heutzutage werden sie eher campesinos genannt, und die Nachkommen der weissen Europäer sind in der Regel die agricultores.
Einmal hatten wir eine Hausangestellte, die viele Geschichten über Hexen kannte. Ich liess mir von ihr immer die gleichen Geschichten erzählen und konnte ihr stundenlang zuhören. Wie gerne schnupperte ich an dem blühenden Geissblattbusch, der an der Rückwand unseres Hauses wucherte, gleich da, wo die Schienen der Eisenbahn waren.
Neben dem Hühnerstall stand an der Wand eine alte Holzleiter. Mein grösstes Vergnügen war auf diese Leiter zu steigen und den vorbeifahrenden Zügen zu zusehen.
Gerne spielte ich auch mit den Indio-Kindern, die in dieser Gegend lebten. Meine Mutter stellte mir Mädchen der «bessere» Leute vor, aber ich fand sie langweilig.
Ich spielte lieber mit den Kindern der chinite (Hausangestellten). Wenn ich konnte, lief ich gerne zu einer Familie Coya im Quartier, die viele Kinder hatte. In den warmen Nachmittagsstunden, wenn die Mutter im Stuhl döste, suchten ein paar Kinder die Haare ihrer Mutter nach Läusen ab. Kein Wunder, dass ich Läuse heimbrachte; zum grossen Entsetzen meiner Mutter!
In dieser Coyafamilie wurde das Essen in einer grossen Schüssel mitten auf den Tisch gestellt, und alle bedienten sich daraus mit ihren Gabeln. Wenn ich dort war, wurde ich dazu eingeladen. Mir gefiel es, und ich fand alles sehr gut. Meine Mutter erschrak jedes Mal, wie schmutzig ich jeweils wieder nach Hause kam, nach unseren Spielen im Freien.
Eines Tages gab es in Metàn ziemlich Aufregung wegen des elektrischen Stroms. Mein Onkel Carlo weigerte sich dem Elektrizitätswerk eine Rechnung zu bezahlen, die er als viel zu hoch erachtete. Es gab einen Riesenstreit, und meinem Onkel wurde der Strom abgestellt. Carlo war sehr stolz und wollte keinen Rückzieher machen. Er besprach sich mit seinen Brüdern und sie beschlossen in Baden, in der Schweiz, bei der Firma Braun Boveri Turbinen zu bestellen, um eine eigene Elektrizitätszentrale zu eröffnen. Schon bald gab es in Metàn zwei Stromlieferanten!
Mein Vater konnte wunderbar lebhaft Geschichten erzählen. Er wurde dann zum Schauspieler mit den Gesten, Bewegungen und seiner lauten, kräftigen Stimme. Eine dieser wahren Geschichte spielte sich in Rio Piedras ab. In meiner Fantasie konnte ich ihn mir gut als 18-jährigen Jüngling vorstellen. Er erzählte, dass er mit seiner Schwägerin Lastenia eine grössere Meinungsverschiedenheit gehabt hatte und, dass er darauf sein Bündel packte, nach Rio Piedras ging, um ein Boliche - eine Art einfacher, kleiner Laden mit Weinschenke - aufzubauen. In weiser Vorsicht hatte er eine Mauer mit Durchgang zwischen Laden und Weinschenke gebaut, wo ein paar Bänke und Tische standen. Die Gauchos kamen, setzten sich und tranken Wein. Es kam vor, dass sie ziemlich über den Durst tranken und etwas aggressiv Streit suchten. Schliesslich kamen auch die Fäuste ins Spiel und nicht selten auch die Messer, die sie am Gürtel trugen, mit denen sie Asado (Grillfleisch) assen. Das war dann der Moment, wo mein Vater sich dazwischen stellte, die Streithähne trennte und sie rauschmiss, oft mit einem Tritt in den Hintern. Er hatte mehr Mut als Verstand und verschaffte sich nicht wenig Respekt! Er meinte dann, dass oft nicht viel gefehlt hätte, dass ihn jemand mit einem Messer ausser Gefecht gesetzt hätte! Er ergänzte mit bewegter Stimme, dass er sich oft gewundert hatte, wieso die Lieferanten/ Grossisten, die mit Waren vorbeikamen, ihm so viel Kredit gewährten. Später erfuhr er, dass sein Bruder Carlo ihnen gesagt hatte, dass sie alle Bestellungen, die sein Bruder wollte, ausliefern sollten. Er hatte sich für ihn verbürgt.